Verdichtung in einem ISOS-Ortskern

Der Entscheid des Bundesgerichts im Fall Rüti löste 2009 in Amtstuben landauf und landab ein mentales Erdbeben aus: Die Richter hatten entschieden, dass ein Hochhaus im Ortskern nicht bewilligt werden konnte. Der Grund: Das ISOS war nicht berücksichtigt worden, und der Gestaltungsplan wich zu stark von der Grundordnung ab. «Zurück auf Feld 1», hiess das für die Bauherren. Heute steht die Überbauung – mit wenigen, aber wichtigen Änderungen. Die Investoren sind glücklich damit. Das ISOS, sagt der Architekt und Investor Beat Ernst, habe letztlich eine Qualitätssteigerung gebracht.
Annemarie Straumann, Journalistin

Frühling 2017 in Rüti im Zürcher Oberland, die Vögel zwitschern. Eine ältere Dame kommt von ihrem Rundgang in der Überbauung zurück. «Wunderbar, diese Tulpen, die sie hier gepflanzt haben«, freut sie sich. Und praktisch sei es hier – alles Wichtige ebenerdig erreichbar: Von ihrer Pflegewohnung im Erdgeschoss komme sie mit ihrer Gehhilfe leicht über die breiten Fuss- und Radwege zur Post um die Ecke, oder hinüber zu Migros, Coop und anderen Einkaufszentren. Nur ein kurzer Spaziergang zwischen den Neubauten hindurch, über eine Brücke mit Blick auf die Jona, und schon ist man bei den Einkaufszentren.

Tulpen in der Neubausiedlung «Stadtzentrum Rüti»
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Tulpen in der Neubausiedlung «Stadtzentrum Rüti» verschönern den Freiraum.
Alle Fotos (2017): Annemarie Straumann, EspaceSuisse

Die Neubausiedlung «Stadtzentrum Rüti» liegt teils in der Zentrumszone, teils in der Kernzone. Rüti,12'000 Einwohner, ist längst ein «verstädtertes Dorf». So steht es auch im ISOS, dem Inventar schützenswerter Ortsbilder von nationaler Bedeutung. Nur fand dieses ISOS lange kaum Beachtung, weder in Rüti noch anderswo – bis zu jenem Urteil von 2009, das die damaligen Pläne für die Neubausiedlung über den Haufen warf (vgl. NZZ, 2009). «Zurück auf Feld eins», wie der Architekt und Investor Beat Ernst rückblickend sagt.

Architekt in Rüti ZH: Beat Ernst
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«Wir wollten etwas Neues für Rüti entwickeln, mitten im Kuchen. Und wir sahen das Potenzial dieses Areals», sagt Beat Ernst, der Architekt der Neubausiedlung. Aufgrund des Bundesgerichtsurteils von 2009 musste er seine Pläne anpassen. Darüber ist er heute froh.

Wie alles begann

Hochhaus abgelehnt – Gemeinde verärgert

Viele waren damals überrascht. Das Bundesgericht hatte 2009 gegen den privaten Gestaltungsplan «Stadtzentrum Rüti» entschieden – wegen eines einzigen geplanten Baukörpers, einem Hochhaus von 22 Metern Höhe. Die Bundesrichter beurteilten den Bau als fragwürdig, weil gemäss der Bau- und Zonenordnung (BZO) von Rüti in der Kernzone 2 nur Gebäude von 9,5 Metern Höhe und solche mit Giebeldach zugelassen sind. Die Abweichung von der Grundordnung war damit zu gross. Vor allem aber kritisierte das Bundesgericht, dass die Bewilligungsinstanzen das ISOS nicht berücksichtigt hatten. Dem vom ISOS geschützten Ortsbild sei nicht hinreichend Rechnung getragen worden.

alte Kernzoone Rüti und 2008 geplantes Hochhaus
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Links: Die frühere Kernzone II. Das Haus in der Mitte ist heute auberginenrot und ein Charakteristikum der Siedlung. Rechts: Das in der Kernzone geplante, aber verhinderte Hochhaus. Bilder z.V.g. von Beat Ernst

Die Gemeinde Rüti reagierte verärgert auf das Urteil: «Lausanne bestimmt, was für die Gemeinde gut sein soll», liess sie die Presse 2009 in einer Mitteilung wissen. Dabei habe man doch die kantonale Natur- und Heimatschutzkommission beigezogen. Auch war der Gestaltungsplan von der Gemeindeversammlung (2005) angenommen worden, wenn auch knapp. «Bitter» sei das, wenn eine «moderne und zukunftsorientierte Entwicklung» nicht erwünscht sei, liess die Gemeinde verlauten.

Grosse Pläne dreier Investoren

Wie war es dazu gekommen? Die Geschichte beginnt mit drei Schulkollegen. Der Architekt und Investor Beat Ernst war einer von ihnen. Zusammen mit zwei Kollegen fasste er in den Nullerjahren ein Projekt im Dorfkern ins Auge. Alle drei waren in Rüti aufgewachsen; Ernst sass seit 1988 im Gemeinderat. «Wir wollten etwas Neues für Rüti entwickeln, mitten im Kuchen. Und wir sahen das Potenzial dieses Areals», sagt Ernst. Im Jahr 2004 standen fünf Grundstücke im Ortskern im Gebiet Bruggacher zum Verkauf, auf denen sich einzelne Häuser und eine umgenutzte alte Fabrik befanden. Die drei Investoren packten die Chance. Sie wollten das Areal zusammen mit dem ortsansässigen Gewerbe entwickeln. Der Kauf ging problemlos über die Bühne. Dann wurde in Etappen geplant und gebaut.

Von Anfang an war klar, dass das alte Fabrikgebäude – einst eine Textilfabrik, dann ein Raum für Tanz, Yoga und sonstige Aktivitäten – zu erhalten war. Neu sollte daneben eine grosse, verkehrsfreie Siedlung entstehen, vor allem für das Wohnen. Man habe das Areal beleben und zudem einen Zugang zum bis anhin fast unsichtbaren Bach Jona schaffen wollen, sagt Ernst.

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Das alte Fabrikgebäude (rechts) – einst eine Textilfabrik, dann ein Raum für Tanz, Yoga und sonstige Aktivitäten – wurde erhalten.

Der Gestaltungsplan sah für Rütis Verhältnisse voluminöse Gebäude vor: In der Zentrumszone sollten vier massige Gebäudequader entstehen. Als markanter Auftakt ins Neubauquartier war das siebenstöckige Hochhaus mit Flachdach geplant, daneben ein öffentlicher, oberirdischer Parkplatz, beides in der Kernzone 2. Gemäss der BZO wären in der Kernzone nur niedrigere Gebäude mit Giebeldach erlaubt gewesen. Der Parkplatz war als Ersatz für einen älteren Parkplatz auf dem Areal vorgesehen: jener ältere Parkplatz sollte weichen. Für den neuen Parkplatz hätte neben dem Hochhaus ein altes, unauffälliges Häuschen von1889 abgebrochen werden sollen.

Beim zweiten Versuch vor Bundesgericht erfolgreich

Doch, wie gesagt, es kam anders. Das Häuschen steht heute noch, das Hochhaus wurde nie gebaut. Ein Nachbar, auch er Architekt, hatte Beschwerde eingereicht, gleich zweimal. Auslöser sei wohl die geplante Rampe zur Garage des Hochhauses und der damit verbundene Verkehrslärm gewesen, meint Architekt Ernst. Der Nachbar ging zunächst gegen den Entscheid der Gemeindeversammlung vor, weil dieser mit 73 Ja zu 70 Nein zu knapp ausgefallen sei, als dass der Gestaltungsplan einfach so umgesetzt werden könne. Damit scheiterte er vor Bundesgericht. Beim zweiten Anlauf jedoch gewann er: Dieses Mal führte der Nachbar das ISOS ins Feld, und das Bundesgericht gab ihm 2009 Recht: Nicht nur seien die Vorschriften in Kernzone 2 zu wenig berücksichtigt worden, sondern auch das ISOS.

Das Urteil überraschte die Gemeinde und die Investoren auch deshalb, weil sie in der Planungsphase die kantonale Natur- und Heimatschutzkommission (NHK) beigezogen hatten. Diese hatte das Areal besucht und war in ihrem Gutachten 2004 zu einem positiven Urteil gekommen. Aber ein Wort fehlte in ihrem Gutachten: Das Wort «ISOS».

«Damals sprach niemand vom ISOS, wenn es um kommunale Planung ging.»
Architekt Beat Ernst

«Man war der Meinung, das ISOS gelte nur für Bundesbauten», sagt Beat Ernst. Also nur für Bundesaufgaben wie den Bau von Bahnstrecken, Nationalstrassen, Militäranlagen und Hochspannungsleitungen.

In ihrem Urteil (BGE 135 II 209) hielten die Bundesrichter jedoch fest: Inventare des Bundes (nach Art. 1-6 NHG) wie das ISOS sind auch für die kantonale und kommunale Planung von Bedeutung. Ihrer Natur nach kommen sie Sachplänen und Konzepten im Sinne von Artikel 13 des Raumplanungsgesetzes gleich. Für die Kantone und Gemeinden besteht daher eine Pflicht, die Bundesinventare zu berücksichtigen (vgl. ES VLP-ASPAN Nr. 3786). Diese Auseinandersetzung mit dem ISOS und dem Ortsbildschutz habe es in Rüti nicht gegeben.

Neubau-Projekt redimensioniert – Qualität erhöht

Doch was heisst berücksichtigen? Darüber wurde – und wird – zum Teil noch lange diskutiert (vgl. Interview mit Lukas Bühlmann). Die Investoren von Rüti jedenfalls machten sich an die Überarbeitung ihrer Pläne. Das Projekt wurde redimensioniert: Es gab eine Höhen- und Volumenreduktion. Die Ausnützungsziffer des ganzen Areals sank von 1 auf 0,8. Anstelle des Hochhauses in der Kernzone entstanden zwei niedrigere Häuser mit Giebeldach. Der geplante Parkplatz wurde in den Untergrund verlegt. Er ist heute – wie Ernst sagt – eine «Deluxe Tiefgarage» mit in die Bausubstanz integrierter Rampe und 109 Parkplätzen, 33 davon öffentlich, finanziert über den Parkraumfonds der Gemeinde, der viele Jahre lang alimentiert, aber kaum genutzt worden war.

Bauherr und Architekt Beat Ernst wirkt zufrieden, mit der Siedlung als Ganzem. Die vier Gebäudequader mit fünf Geschossen konnte er wie geplant in der Zentrumszone erstellen. Nur in der Kernzone musste man neue Lösungen finden und das Volumen anpassen. «Ich bin zufrieden mit der Ausnützung», sagt Ernst. Die Siedlung sei wirtschaftlich.

«Ich habe durch ISOS keinen finanziellen Schaden erlitten, sondern eine Qualitätssteigerung erreicht.»
Architekt und Investor Beat Ernst

Auberginenrotes Häuschen wird zum Quartiermerkmal

Das alte Häuschen ist zum Orientierungspunkt in der Überbauung geworden. Es erhielt einen kräftigen, auberginenroten Farbanstrich, um es als Kontrapunkt zum Neuen hervorzuheben. Aus einem unscheinbaren alten Haus sei dank Farbe und Renovation ein Häuschen mit Charme geworden, sagt Ernst. «Alle lieben es.» Im Erdgeschoss bietet ein Geschäft Comestibles an: Salami, Käse und italienische Feinkost.

Daneben geniessen die Gäste des Bistros «Amici mei» die Frühlingssonne, an Tischchen an der Werkstrasse sitzend. Das Bistro befindet sich in einem modernen Anbau an die alte Fabrik. Diesen konnten die Bauherren in der Kernzone problemlos realisieren. Nach wie vor wird die Fabrik für Yoga, Tanz und Sport genutzt. Sie erinnert die Leute von Rüti an die industrielle Vergangenheit ihrer Gemeinde. In Rüti 100 wurden Jahre lang Webmaschinen hergestellt.

In Rüti ZH hat das Häuschen überlebt und bringt Charme in die Neubau-Siedlung. Das weisse Giebelhaus rechts steht dort, wo das Hochhaus geplant war-

Vier Quader mit sozialem Aspekt

Die vier neuen Quader in der Zentrumszone bieten vor allem Wohnraum. Zwei dieser Baukörper haben die Bauherren an eine Stiftung für ganzheitliche Betreuung vermietet, die «Wohnen mit Service» für Menschen mit Handicaps anbietet. Die Wohnungen mit 2½ oder 3½ Zimmern sind behindertengerecht gestaltet. Im Erdgeschoss eines der beiden Quader ist zudem eine Pflegewohngruppe mit acht Bewohnerzimmern eingemietet. Hier wohnt auch die ältere Dame, die sich über die Tulpen im Aussenraum freut.

gedeckter Tisch in Küche der Pflegewohngruppe
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Gemeinsame Küche der Pflegewohngruppe mit acht Bewohnerzimmern. Die Neubausiedlung «Stadtzentrum Rüti» 2017 ist auch barrierefrei begehbar.
Ältere Bewohnerin der Alterswohnungen in den Neubauten.
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Bewohnerin der Alterswohnungen in den Neubauten.

Farbtupfer setzten die Bauherren jedoch weniger aussen als vielmehr innen: Die Treppenhäuser strahlen in satten Farben, ebenso wie die Tiefgaragen.

Die schönsten Farben zaubert ohnehin die Frühlingsonne ans Ufer des Jona-Kanals. Dort tummeln sich Schüler auf den neuen Sitztreppen. Ernst und die anderen Bauherren haben der Gemeinde den Landstreifen am Kanal geschenkt. Diese hat das Ufer aufgewertet. «Früher war die Jona fast unsichtbar und unzugänglich. Heute ist das Ufer ein Erholungsraum für alle», sagt Ernst.

Rüti ZH Ufer des Jona-Kanals mit Sitztreppen.
Die Gemeinde hat das Ufer des Jona-Kanals aufgewertet. Jetzt lässt sich hier verweilen.

Ein Gerichtsurteil mit Lerneffekt

Ein Verdichtungsprojekt mit Happy End also. Architekt Ernst sagt, er habe dazugelernt. Das Urteil im Fall Rüti habe ihm klargemacht: «Die Analyse des Orts muss der Ursprung aller Architektur sein». Er rate allen Architekten, die Zonenpläne intensiver zu studieren. «Ein Zonenplan ist mehr als ein farbiger Plan.» Ausnützung und Gebäudevolumen seien auf den Kontext abzustimmen.

Was rät der Investor und Architekt Ernst den Gemeinden? «Sie sollten früh einen externen Fachmann beiziehen und dem Architekten zur Seite stellen», sagt Ernst. Der Architekt selbst müsse einen offenen Geist haben und bereit sein, seine Pläne – auch aufgrund von externen Inputs – anzupassen, bis es stimme.

Bauherr Ernst baut heute in kleinerer Körnung. Unweit der Überbauung «Stadtzentrum Rüti» sind Bauarbeiter und Maschinen auf einer neuen Grossbaustelle zu Gange. «Wir sind am Durchstarten», sagt Ernst. Damit meine er nicht nur seine Projekte, sondern ganz Rüti.

Rüti ZH Neubau-Siedlung Stadtzentrum Rüti.
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Rüti ZH: Stadtzentrum Rüti aus der Vogelperspektive.

Die wichtigsten Erkenntnisse aus der Verdichtung in Rüti ZH

  • Das ISOS (Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz) geht auch die Gemeinden etwas an. Sie müssen es in ihrer Ortsplanung berücksichtigen.
  • Das ISOS verhindert Verdichtung nicht. Es hat im Fall Rüti zu einer Verdichtung mit mehr Siedlungsqualität geführt.
  • Altes zu bewahren und ins Neue zu integrieren, kann unerwartet schöne Folgen haben: Das alte rote Häuschen verleiht dem Neubauquartier in Rüti Charme, Identität und erzählt eine Geschichte.

Quelle/Erstpublikation: INFORAUM 2/2017, Magazin für Raumentwicklung (Hrsg: EspaceSuisse). Siehe auch "Dokumente" am Ende diese Seite.

ISOS – Das Inventar der schützenswerten Ortsbilder

Das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) stützt sich auf Artikel 5 des Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz. Der Bundesrat entscheidet aufgrund topografischer, räumlicher und architekturhistorischer Kriterien, ob ein Ortsbild in das Inventar aufgenommen wird. Die Kantone werden angehört.

Derzeit sind im ISOS rund 1'300 Objekte erfasst, die in der Regel zehn und mehr Gebäude umfassen. Das ISOS beurteilt ein Ortsbild gesamthaft, d.h. es beurteilt die Anordnung von Gebäuden und ihr Verhältnis zur Nah- und Fernumgebung.

Nicht alles, was im ISOS umrandet ist, ist gleichermassen geschützt. Vielmehr gibt es drei Abstufungen mit unterschiedlichen Erhaltungszielen. In Gebieten der Stufe A, etwa in historischen Kernzonen, ist das Ziel «Erhalten der Substanz»; hier ist die grösste Sorgfalt geboten. Stufe B verlangt «Erhalt der Struktur» und Stufe C «Erhalt des Charakters» eines Ortsbilds. B oder C bezeichnen Gebiete, die sich nach einer genauen Analyse für eine mehr oder weniger starke Transformation eignen.

Für den Bund ist das ISOS bindend, die Kantone und Gemeinden sind gehalten, ISOS-Objekte bei ihren Planungen zu berücksichtigen.

Im Interview mit Lukas Bühlmann

«Das ISOS geht primär die Gemeinden etwas an»
Lukas Bühlmann, Jurist, Direktor EspaceSuisse
Lukas Bühlmann, Direktor EspaceSuisse
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Lukas Bühlmann, Direktor EspaceSuisse. Lukas Bühlmann ist seit 2003 Direktor von EspaceSuisse. Er hat schon Tausende Bundesgerichtsurteile analysiert. Beim Urteil zu Rüti 2009 wusste er sofort: Das ist ein Leading Case, der aufrütteln wird.

Herr Bühlmann, wurden Sie vom Urteil im ISOS-Streitfall Rüti 2009 überrascht?

Nein. Uns Fachjuristen war längst klar: Die Frage, welche Bedeutung das ISOS für die kommunale Planung hat, wird früher oder später vor Bundesgericht landen. Der Schweizer Raumplanungsverband VLP-ASPAN (heute: EspaceSuisse) hatte schon Jahre zuvor in zwei Publikationen zu den Bundesinventaren erklärt, dass die Inventare nicht nur bei Bundesaufgaben, sondern auch bei kantonalen und kommunalen Aufgaben ein gewisses Gewicht haben. Als das Urteil dann 2009 fiel, wusste ich sofort: Das ist ein Leading Case. Das Urteil wird aufrütteln.

Viele Gemeindebehörden reagierten konsterniert …

Ja, einige hatten das Gefühl, jetzt dürfe man im Ortskern nicht nichts mehr bauen. Dem ist aber nicht so. Bei einem grossen Teil der im ISOS enthaltenen Gebiete ist eine bauliche Entwicklung möglich. Das Bundesgerichtsurteil zu Rüti war ja auch sehr differenziert. Ein Teil der umstrittenen Überbauung in Rüti wurde als ISOS-konform beurteilt, der andere nicht, was das Gericht aber fundiert begründete.

Das Urteil stellte klar: Nicht nur der Bund, auch die Gemeinden müssen das ISOS berücksichtigen, etwa bei Um- und Aufzonungen. Doch was heisst «berücksichtigen»?

Das ist nicht einfach zu beantworten. Klar ist: Das Bundesgericht verlangt von den Gemeinden eine Auseinandersetzung mit dem ISOS. Das ISOS ist eine Planungsgrundlage: ein Inventar, das die historische Bedeutung und den Schutzwert von baulichen Ensembles und ihrer Umgebung aufzeigt. Fachleute haben diese Beurteilung vorgenommen; die Gemeinden müssen diese Beurteilung in ihre Interessenabwägungen einbeziehen. Am Ende müssen sie jeweils entscheiden: Was ist uns wichtiger: Veränderung oder Erhalt? Das ISOS schliesst Abbrüche ja nicht grundsätzlich aus, es gibt unterschiedlich starke Schutzkategorien (vgl. Infobox ISOS).

Bei Bundesaufgaben geht der Schutz weiter als bei kommunalen Aufgaben: Der Bund ist bei seinen Aufgaben verpflichtet, Inventarobjekte ungeschmälert zu erhalten oder grösstmöglich zu schonen. Für Gemeinden gilt das ISOS nicht in dieser Stärke. Sie müssen Eingriffe ins ISOS – anders als bei Bundesaufgaben – nicht durch ein nationales Interesse rechtfertigen können. Die Gemeinden müssen das ISOS aber berücksichtigen, und das heisst: Sich ernsthaft damit auseinandersetzen. Zum Beispiel bei Neubauprojekten prüfen, ob es Varianten gibt, die besser ins Ortsbild passen würden.

Das ISOS tangiert aber nicht nur Bauvorhaben …

Nein, die Auseinandersetzung mit dem ISOS muss viel früher beginnen. Am besten schon, wenn die Gemeinden Entwicklungskonzepte erarbeiten, zum Beispiel ein Siedlungsleitbild oder einen kommunalen Richtplan. In diesen strategischen Dokumenten legen die Gemeinden ihre Wachstums- und Verdichtungsgebiete fest, und da ist es sicher nicht ratsam, die massivste Verdichtung in einem ISOS-Ortsbild festzulegen. Wer sich frühzeitig mit dem ISOS auseinandersetzt, erspart sich später Konflikte und Frust.

Was raten Sie den Gemeinden sonst noch?

Ich empfehle ihnen auch, frühzeitig Fachleute beizuziehen, zum Beispiel die kantonale Denkmalpflege. Sinnvoll kann es auch sein, den Grundeigentümern eine Bauberatung anzubieten. So können die Gemeinden Bauwillige für das Ortsbild sensibilisieren, sodass sie von vornherein ortsbildverträgliche Bauprojekte entwickeln. Sie ersparen sich damit Rechtsstreitigkeiten und unnötige Kosten.

Kleine Gemeinden sagen, sie hätten nicht die Ressourcen, um Fachleute beizuziehen oder einen Leitbildprozess in Auftrag zu geben. Was antworten Sie ihnen?

Gemeinden, auch kleine, müssen heute ein Entwicklungskonzept erstellen. Das gehört einfach zu einer guten Ortsplanung. Umso mehr, wenn man ein ISOS-Ortsbild hat. Man kann durch eine überlegte Ortsplanung das Konfliktpotenzial senken und sich später Ärger ersparen. Fachleute beizuziehen, das kostet natürlich etwas. Aber viele, auch kleine Gemeinden, geben sehr viel Geld für die Erschliessung und Infrastrukturen aus; da muss es doch auch möglich sein, etwas in die Qualität des Ortsbilds zu investieren.

Jede Gemeinde sollte sich auch überlegen, ob sie nicht einen Gestaltungsbeirat einsetzen will, der ihr bei wichtigen oder heiklen Baugesuchen beratend zur Seite steht. Das kostet nicht die Welt.

Rüti ZH rotes Häuschen Detail der Fasssade
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Detail des nicht abgerissenen Häuschens in Rüti ZH. Es integriert den Charme vergangener Zeiten in die Neubau-Siedlung.
Architekt Beat Ernst und Jurist Lukas Bühlmann in Rüti ZH.
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Architekt Beat Ernst und Jurist Lukas Bühlmann mit dem Gestaltungsplan in Rüti ZH.
«Gemeinden, auch kleine, müssen heute ein Entwicklungskonzept erstellen. Das gehört einfach zu einer guten Ortsplanung.»
Lukas Bühlmann

Ist ein ISOS-Ortsbild eher Fluch oder Segen?

Richtig verstanden, ist es ein Segen. Falsch verstanden, ein Fluch. Richtig verstanden, hilft es, Siedlungsqualität zu schaffen. Das ISOS hilft, die Strukturen zu verstehen, die das Besondere eines Orts ausmachen – das Zusammenspiel von Plätzen, Bauten, Frei- und Strassenräumen. Indem man diese Werte erkennt und weiterentwickelt, schafft man Qualität. Qualität für die Menschen, die dort leben oder sich aufhalten.

Das ISOS zu berücksichtigen, bringt auch einen praktischen Vorteil: Verdichtungsprojekte, die auf bestehende Strukturen Rücksicht nehmen, stossen in der Bevölkerung auf grössere Akzeptanz.

Und wenn sich eine Gemeinde nach der Auseinandersetzung mit dem ISOS entscheidet, vom Schutzgedanken abzuweichen?

Dann muss sie gute Gründe anführen, wieso die Veränderung die bessere Variante ist. Das ISOS zwingt sie zu einem bewussten Umgang mit dem Ortsbild. Die Gemeinde behält aber einen Ermessenspielraum. Das hat das Urteil des Bundesgerichts im Fall des Schaffhauser Villenquartiers Steig bestätigt. Das Gericht hat hier anerkannt, dass eine Auseinandersetzung mit den geschützten Bauten und ihrer Umgebung stattgefunden hat, und die Gemeinde danach eine vertretbare Lösung für die Verdichtung in diesem Gebiet gefunden hat.

Das Bundesgericht interveniert nur, wenn sich die Gemeinde nicht ernsthaft mit dem ISOS auseinandergesetzt hat. Wenn es merkt, dass man die Sache unter den Tisch gekehrt und sich nicht ernsthaft mit dem Ortsbild beschäftigt hat.

Die Architekturzeitschrift «werk, bauen + wohnen» befürchtet, dass das ISOS einer «echten städtebaulichen Erneuerung» im Weg stehen könnte. Dass Kopien des Alten gebaut werden.

Diese Gefahr besteht. Solche Beispiele gibt es. Es gibt aber auch gelungene Beispiele, die zeigen, dass bauliche Entwicklung möglich ist. Ideale Orte für echte städtebauliche Erneuerungen sind jedoch nicht unbedingt die geschützten Ortsbilder, sondern Industriebrachen. Oder auch Ein- und Mehrfamilienhausgebiete aus der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, denen ein städtebaulicher Charme fehlt.

Sie sind oft in Kontakt mit Gemeinderäten und Planungsleuten. Hat sich deren Haltung gegenüber dem ISOS verändert?

Wir erhalten fast wöchentlich Anfragen zum Thema ISOS und Verdichtung. Die Gemeinden kommen entweder aus Not, weil Konflikte entstanden sind, oder aus einem echten Bedürfnis, etwas für das Ortsbild zu tun. Einige Gemeinden merken, dass sie aufpassen müssen, wenn sie ihre bauliche Identität nicht völlig zerstören wollen. Ein Beispiel ist Lachen SZ: Die Gemeinde hatte ein heikles Baugesuch im Ortskern auf dem Tisch und suchte Hilfe. Es ging ihr darum, eine klare Linie im Umgang mit Neubauprojekten zu finden und sich nicht dem Vorwurf der Willkür auszusetzen, wenn sie ein Projekt ablehnt. Eine klare Haltung der Behörden hilft letztlich auch den Bauherren, denn sie schafft Planungssicherheit.

Ein anderes Beispiel ist Brunnen in der Gemeinde Ingebohl SZ. Auch hier gab es Rechtsstreitigkeiten wegen Neubauvorhaben im ISOS-Gebiet. Die Gemeinde hat deshalb einen Fachmann – Christian Wagner von der Hochschule Chur – geholt, um für die Ortsplanungsrevision neue Grundlagen zu erarbeiten: eine Regelung für den Umgang mit ISOS im neuen Bau- und Zonenreglement. Die Gemeinde erkannte, dass sie das Thema bereits in der Ortsplanung angehen muss.

Kennen Sie Beispiele, wo mit dem ISOS seit jeher konstruktiv umgegangen wurde?

Sempach LU ist ein Beispiel. Die Kleinstadt hat den Wakkerpreis 2017 gewonnen, weil sie ihre Ortskerne von nationaler Bedeutung sorgfältig und doch zeitgemäss weiterentwickelt. Ihre Instrumente dazu sind unter anderem ein präzises Baureglement, das zeigt, wo die wertvollen Bauten stehen, Architekturwettbewerbe und eine kompetente, unabhängige Fachkommission.

Welche Rolle spielen die Kantone?

Die Kantone können die Gemeinden im kantonalen Richtplan für das ISOS sensibilisieren. So wie das etwa der Kanton Freiburg macht. Er hat den Einbezug des ISOS in der Ortsplanung vorgeschrieben. Ausserdem müssen die Kantone bei der Prüfung von Nutzungsplänen darauf achten, ob das ISOS berücksichtigt wurde. Aber das ISOS geht primär die Gemeinden etwas an, sie müssen es berücksichtigen.

Interview: Annemarie Straumann

Arbeitshilfe zu ISOS und Verdichtung

Der Raumplanungsverband EspaceSuisse (bis 2018 VLP-ASPAN genannt) hat zusammen mit den vier Kantonen GR, SG, SZ und SO eine Arbeitshilfe zur Verdichtung in ISOS-Gebieten verfasst. Im Zentrum steht die Interessenabwägung. Die Arbeitshilfe ermöglicht den kommunalen Baubehörden und Bauwilligen die Abschätzung, wie und in welchem Umfang Bauvorhaben in Gemeinden mit Ortsbildern von nationaler Bedeutung realisiert werden können. Die Arbeitshilfe zeigt auf, wie die Interessen aller Beteiligter erfasst werden und wie der vorhandene Spielraum für die Verdichtung genutzt werden kann.

Pläne und Zahlen zur Dichte der Neubausiedlung «Stadtzentrum Rüti»

Der Atlas von densite.ch (nur französisch) bietet weitere Informationen über die Dichte der Neubausiedlung «Stadtzentrum Rüti»und ermöglicht den Vergleich mit anderen Bebauungen in der Schweiz.

www.densite.ch

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