Stadtanalyse und Nutzungsstrategie

Weinfelden stand vor ein paar Jahren vor einer schwierigen Situation: Der Strukturwandel im Detailhandel lähmte das Thurgauer Regionalzentrum. 2014 wagten die Verantwortlichen einen Schritt nach vorn und engagierten die Experten von EspaceSuisse. Mit dem neutralen Blick kam Bewegung in die Stadtplanung, und überraschende Erkenntnisse traten an den Tag.
Paul Dominik Hasler, Experte EspaceSuisse, Team Netzwerk Altstadt

Weinfelden ist ein Regionalzentrum mit gut 11’000 Einwohnerinnen und Einwohnern und einem ansehnlichen Wachstum. Wie in vielen anderen Orten der Schweiz konnte jedoch weder die günstige Lage noch der Zuzug von Firmen und Bewohnerinnen und Bewohnern den Wandel im Zentrum verhindern. Die Kaufkraft hat sich zusehends verlagert – sei es in die peripher entstandenen Einkaufszentren, in die grösseren Zentren Frauenfeld und Weinfelden oder auch ins nahe Ausland: Das deutsche Konstanz bietet eines der attraktivsten Einkaufserlebnisse weitherum. Dazu kommt der stetig wachsender Internethandel.

Die drei Zentrumssysteme: Historischer Ortskern, Bahnhofstrasse und Marktplatz. Der Coop und viele weitere Detailhändler zogen seit den 1990er-Jahren ins Gewerbegebiet im Westen von Weinfelden. Quelle: Bundesamt für Landestopografie swisstopo

Kompliziertes Zentrumsystem

In dieser schwierigen Ausgangslage wandten sich die Verantwortlichen der Stadt Weinfelden an die Expertinnen und Experten des Netzwerks Altstadt von EspaceSuisse. Den Auftakt zur Zusammenarbeit legte 2014 die Stadtanalyse, die einen Aussenblick bot und mit ein paar interessanten Erkenntnissen aufwarten konnte. So zeigte sich, dass sich in Weinfelden gleich drei Zentrumssysteme überlagern. Alle prägten sie im Laufe der letzten Jahrhunderte den Ortskern, heute aber – bei abnehmender Erdgeschossnutzung – konkurrenzieren sie sich zusehends.

Als historischer Siedlungskern fungiert die alte Landstrassengabelung, die schon früh eine Entwicklung am Fusse des Ottenbergs einleitete. An diesem «T» bildete sich das heute noch erlebbare Fachwerkdorf Weinfelden aus (siehe Karte oben). Im 19. Jahrhundert erfolgte der Bahnbau, der Weinfelden mit gleich drei Linien zum regionalen Knoten machte. Die Bahnhofstrasse aber ignorierte die alte Logik des Ortes und führte auch nicht ins Zentrum, sondern daran vorbei. Die danach einsetzende Besiedelung und Entwicklung dieser Strasse schuf ein erstes Parallelsystem, das lange Zeit gut funktionierte und den historischen Ortskern ergänzte.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen die Verkaufsflächen rasant zu. Rund um den Marktplatz wurden im Stil der frühen Einkaufszentren mit viel Beton Ladenzentren mit zugehörigen Tiefgaragen gebaut. Diese Strukturen und ihre Mieterinnen und Mieter bildeten ein drittes Zentrumssystem, das über innenliegende Passagen und Schaufenster die Kundschaft zu sich holte. Obwohl diese Einkaufszentren mitten im Ortskern liegen, schufen sie doch eine Struktur, welche die beiden bisherigen Zentren ignorierte und gar zu übertreffen versuchte.

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Die Bahnhofstrasse zeigt den Stil der Gründerzeit und deren bauliche Zeugen. Heute spielt sie für den Verkehr eine Nebenrolle. Fotos: P. D. Hasler
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Am Haus links erkennt man noch die frühere Funktion der Durchfahrtsachse. Damals entzog man den Erdgeschossen Platz, um dem Verkehr mehr Raum zu geben. Inzwischen ist es ruhig geworden im historischen Fachwerkdorf.

Eine zusätzliche Schwächung des Ortskerns

Weinfelden musste in den 1990er-Jahren zudem einen herben Dämpfer hinnehmen. Die Stadt opponierte gegen ein Bauvorhaben am Siedlungsrand: Coop plante ein neues Einkaufszentrum im Gewerbegebiet. Man befürchtete zu Recht, dass damit die Rolle des Ortskerns geschwächt würde und verteidigte die eigene Zonenplanung und die Nutzungsbeschränkung in der Gewerbezone bis vor Bundesgericht – unterlag aber in wesentlichen Punkten. Coop baute das unerwünschte Zentrum und erweiterte es sukzessive, begleitet von einem schrittweisen Auszug aus dem Ortskern: Vor Kurzem erst zügelte mit InterDiscount der letzte Laden der Coop-Gruppe, der sich noch im Zentrum befunden hatte, ins Gewerbegebiet.

Dieses traumatische Erlebnis hat das Selbstverständnis der Stadt nachhaltig geschwächt. In der Folge entstanden weitere Läden im Gewerbegebiet, die sehr amerikanisch anmuten und als Handschrift der immer ausgeprägteren Autokultur gelesen werden können: eingeschossige Hallenbauten, gruppiert um einen grossen Parkplatz.

Weinfelden wohin?

Mit diesen besonderen ortsbaulichen Genen und einer sich zuspitzenden Entwicklung im Detailhandel sah sich die Stadt Weinfelden ab der Jahrtausendwende zusehends mit grundsätzlichen Fragen konfrontiert: Kann der Ortskern seine Funktion als Einkaufs- und Begegnungsraum noch erfüllen? Welche Massnahmen können zu seiner Stärkung beitragen? Wie soll sich die Stadt in den Entwicklungsprozess einbringen? Motiviert von einem aktiven Gewerbe zeigte sich die Stadt Weinfelden bereit, die Herausforderung anzugehen. Stadtpräsident Max Vögeli und der langjährige Leiter des Bauamtes, Martin Belz, initiierten einen Prozess, um mit Unterstützung von EspaceSuisse die Zentrumsfrage zu klären.

Sonderfall alter Ortskern

In Weinfelden spielt der historische Ortskern aufgrund der erwähnten Überlagerung der Zentrumssysteme seit längerer Zeit eine Sonderrolle. Hier hat der Strukturwandel bereits vor 30 Jahren stattgefunden, indem die kleinen Läden ihre Kundschaft an den modernen Marktplatz und die dort entstandenen Einkaufszentren verloren hatten. Trotzdem darf das «alte Weinfelden» bis heute als attraktive Nische wahrgenommen werden, wo sich gewisse Anbieter halten können, ja sogar neue Geschäfte zuziehen.

Dabei war für die Expertinnen und Experten von EspaceSuisse nicht klar, wie diese Situation genau einzuschätzen ist. Herrschte hier ein labiles Gleichgewicht oder erlebte der alte Dorftypus ein Revival? Sollte man in diesem Quartier mit Massnahmen eingreifen oder im Gegenteil das bestehende System nicht stören? Um diesem Teil des Zentrums gerecht zu werden, wurde ein gesonderter Prozess in Form eines «Gassenclubs» durchgeführt. Dieser liess die Betroffenen in offenen Diskussionsrunden zusammen eine Perspektive entwickeln. Dieser Schritt erwies sich als richtig: Er verhinderte, dass der historische Ortskern neben den aktuellen Entwicklungen rund um den Marktplatz zu kurz kam.

Die Stadtanalyse als Zünder

Die Aussagen und Vorschläge der Stadtanalyse von 2014 wirkten als willkommener Zünder in der Zentrumsbetrachtung. Die knapp 20 Seiten präsentierten eine Aussensicht, die auf die Beteiligten motivierend, aber auch provokativ wirkte. So wurden Aspekte beleuchtet, die den Weinfelderinnen und Weinfeldern kaum mehr auffielen, oder die sie als gegeben annahmen. Dazu kamen ein paar erfrischende Tabubrüche, mit denen alte Vorstellungen hinterfragt wurden. So wurde die Themen Verkehr und Parkierung in ein neues Licht gerückt, indem nicht über Parkplätze, sondern über Stimmungen, Nutzungen und räumliche Qualitäten geredet wurde. Und das Team von EspaceSuisse warf schliesslich auch die Frage auf, ob der historische Kern in Zukunft überhaupt noch öffentliche Nutzungen brauche.

Die Nutzungsstrategie als Folge

Mit diesen Aussagen aus der Stadtanalyse startete Weinfelden den Prozess der Nutzungsstrategie. Die Tatsache, dass die Stadt eine Aussensicht zuliess, schuf Vertrauen bei der Bevölkerung: Über 150 Personen erschienen an der ersten Veranstaltung und diskutierten rege mit. Gewerbe und Hauseigentümer waren mittels gesonderter Diskussionsprozesse in die Strategiefindung eingebunden. Dabei zeigte sich: Bei der Analyse waren sich die Beteiligten oft einig, bei den zu treffenden Massnahmen hingegen weniger, was den Wert dieses Mediationsansatzes herausstrich. Immer wieder konnten die Expertinnen und Experten mit Beispielen und Erfahrungen aus anderen Orten aufzeigen, welche Lösungsansätze für Weinfelden in Frage kämen und wie diese zu beurteilen sind.

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Der Marktplatz mit seinen städtischen Dimensionen und den Einkaufszentren der 1970er-Jahre stellt für die Raumentwicklung eine Knacknuss dar. Er ist Drehscheibe des lokalen Lebens, kann aber keine ausreichende Geborgenheit oder soziale Dichte bieten.
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Solarien sind typische Nachnutzer ehemaliger Einzelhandelsbetriebe. Die «grafische Lautstärke» ist aber eher eine unerfreuliche Erscheinung, die das Ortsbild negativ beeinflusst.

Die Werkzeuge der Siedlungsberatung und ihre Wirkung

Die drei Werkzeuge decken das breite Feld zwischen Analyse und Umsetzung ab, das sich bei einer Erneuerung des Ortskerns zeigt.

  1. Die Stadt-/Ortsanalyse ist eine kompakte Aussensicht auf die heutige Situation und auf die Zukunftsperspektiven. Dank eines guten Vergleichswissens können die Expertinnen und Experten von EspaceSuisse eine gute Einschätzung der Lage und eine Palette an Anstössen bieten. Die Stadt-/Ortsanalyse soll als Ausgangspunkt für die interne und externe Diskussion dienen.
     
  2. Die Nutzungsstrategie ist ein partizipativer Ansatz, mit dem die Aussagen der Stadt-/Ortsanalyse in eine breite Diskussion hineingetragen werden sollen. Dazu werden unterschiedliche Diskussions- und Workshop-Formateangeboten, die vor allem die beiden Zielgruppen Läden/Gastronomie bzw. Grundeigentümer einbeziehen. Parallel dazu hilft eine lokal zusammengestellte Begleitgruppe, das Projekt auf die lokalen Bedürfnisse und Möglichkeiten abzustimmen.
     
  3. Der «Gassenclub» kommt immer dort zur Anwendung, wo sich die Anwohnerinnen und Anwohner eines Strassenabschnittes oder einer Gasse notwendigerweise solidarisieren müssen. In der Regel geht es um die Nutzungsausrichtung der Häuser und um gegenseitige Investitionssicherheit, weshalb oft die Hauseigentümer im Zentrum des Prozesses stehen. Es kann aber auch um die Aussenraumnutzung oder um Gestaltungsfragen gehen.

Mehr zum Beratungsangebot von EspaceSuisse: espacesuisse.ch > Beratung > Siedlungsberatung

Stossrichtungen und Massnahmen

Der Prozess schärfte nach und nach die Perspektive auf die Zukunft. Im Verlauf wurden mögliche Stossrichtungen vorgegeben und Massnahmen entwickelt (siehe Kasten «Massnahmen für Weinfelden»). Die rund 15 Einzelaufgaben wurden sowohl mit dem Gewerbe und den Hauseigentümern wie auch mit der Stadt abgeglichen, sodass sie sich auf einen soliden Konsens abstützten. Manches wurde im Sinne einer Potenzialabklärung formuliert, anderes war konkret und konnte bald angepackt werden. Die Aufgaben betrafen aber nicht nur die Stadt, sondern auch die Läden, Gastronomen und Eigentümer.

Allerdings war klar, dass die Stadtverwaltung die neuen Aufgaben nicht alle anpacken konnte. Dazu war sie personell zu eng aufgestellt und auch nicht immer die richtige Partnerin, um Dinge in Bewegung zu setzen. Die Experten von EspaceSuisse regten deshalb an, die Stelle eines «Ortsentwicklers» oder «Kümmerers» zu prüfen. Dieser sollte das breite Massnahmenpaket im Auge behalten und an wichtigen Stellen aktiv werden beziehungsweise die Koordination zwischen den Betroffenen sicherstellen. Der Stadtrat stimmte 2016 einem 50 %-Mandat für drei Jahre zu. Mit David Keller konnte ein erfahrener Netzwerker und Architekt für die Umsetzung der Nutzungsstrategie gewonnen werden. Seine Arbeit erhielt viel Zuspruch, und dank des Erfolgs bei der Umsetzung wurde seine Anstellung erst kürzlich um weitere drei Jahre verlängert.

Die Stadt Weinfelden will den Busbahnhof erweitern und den Verkehr zwischen Bahnhof und Ortskern beruhigen.

Und wie sieht es heute aus?

Es ist vieles am Tun in Weinfelden. Die vernetzende Arbeit von Ortsentwickler David Keller stellte sich dabei als zentral heraus. Er koordiniert zwischen den Läden, vermittelt Möglichkeiten, schafft so ein Klima der Zuversicht sowie Investitionssicherheit. Zum Symbol dieser positiven Haltung entwickelte sich der «Wyfelder Fritig», der jeden Monat im ganzen Ortskern dem Austausch und der Geselligkeit dient. Dieser Abend mauserte sich inzwischen zum Aushängeschild des prosperierenden Regionalzentrums. Zudem sind diverse strukturelle Massnahmen in Arbeit – angefangen bei der Erweiterung des Busbahnhofes, der Verkehrsberuhigung auf der zentralen Verbindungsachse zwischen Bahnhof und dem Ortskern, der Aufwertung von Aussenräumen im Zentrum oder der Vorarbeit zu einem von den Geschäften gemeinsam organisierten Hauslieferdienst. In Weinfelden hat sich vor allem eines verändert: die Stimmung. Zwar sind (noch) nicht alle alten Probleme gelöst, aber der laufende Prozess konnte neue Entwicklungen anstossen.

Massnahmen für Weinfelden

Welcher Art sind die Massnahmen, die in einer Nutzungsstrategie vorgeschlagen werden? Ein Blick auf den Fall Weinfelden zeigt drei Stossrichtungen mit jeweils vier bis fünf Massnahmen auf. Im Strategiebericht sind diese detaillierter ausgeführt, inklusive Zuständigkeiten, Querbezügen und konkreten Handlungsanleitungen.

  • Stossrichtung A: Das Zentrum erlebbar machen
    Weinfelden leidet unter einem unklaren Zentrumssystem. Es gibt mehrere sich überlagernde Zentrumsachsen. In Zeiten der rückgängigen Ladennutzung muss eine Klärung der Funktion sowie eine Stärkung der Achsen angestrebt werden. Der Verkehr soll sich vermehrt dem Aufenthaltsaspekt unterordnen.
     
  • Stossrichtung B: Das Typische an Weinfelden weiterentwickeln 
    Weinfelden ist ein Dorf mit einer starken Identität und bedeutenden Qualitäten. Diese Aspekte sollen gestärkt werden, um den Bedrohungen des Strukturwandels entgegenzutreten. Im Zentrum steht der qualitätsvolle Ortskerns als Raum für Kultur, Begegnung, Gastronomie und Einkauf. Er soll als Alternative zu den eher anonymen Einkaufstypologien im Umland betont werden.
     
  • Stossrichtung C: Die publikumsorientierten Nutzungen steuern 
    Der Strukturwandel setzt den Detailhandel im Zentrum unter Druck. Dieser ist gezwungen, sich stärker zu organisieren und zu koordinieren. Dazu sind Massnahmen nötig, die der Kundschaft einen besseren Ladenmix und eine höhere Dichte im Zentrum bieten.

Im Interview mit David Keller 

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Der Schreiner, Architekt und Marketingfachmann David Keller war 2016 die optimale Wahl für die Rolle des «Ortsentwicklers» oder «Kümmerers» in Weinfelden. Mit einem Teilzeitpensum von 50 % nimmt er eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der Nutzungsstrategie ein. Er ist direkt dem Stadtpräsidenten unterstellt und arbeitet eng mit diesem zusammen.

David Keller, wie nennt man Sie in Weinfelden? «Kümmerer»? «City-Manager»?

Ich bin offiziell für die Stadt Weinfelden als «Projektleiter Nutzungsstrategie Ortskern» tätig. Für die Bevölkerung der Stadt Weinfelden bin ich David Keller, «dä vom Wyfelder Fritig».

Wie würden Sie die Herausforderung beschreiben, mit der Sie konfrontiert sind in dieser Rolle?

Es ist eine vielfältige Herausforderung. Das war ich mir allerdings gewohnt, da ich zuvor während mehreren Jahren die Rolle des Verbandssekretärs bei den Schreinern des Kantons Thurgau innehatte. Man muss vermitteln können, muss vielseitig denken und Lösungen erkennen können.

Sind die Erfahrungen als gelernter Architekt in diesem Kontext hilfreich?

Sicher. Es ist aber weniger die ästhetische Seite der Architektur, die hier gefragt ist, sondern die Dynamik der Immobilien, der Entwicklung und der städtebaulichen Potenziale. Zudem werde ich als Architekt vielleicht etwas ernster genommen bei den Liegenschaftseigentümern. Wichtiger aber ist die Kompetenz im Bereich Marketing und Kommunikation. Hier sind meine Schwerpunkte, vor allem beim Umsetzen von konkreten Anliegen.

«Der behutsame Austausch von Wissen, Wünschen und Möglichkeiten ist extrem wertvoll»
David Keller, Schreiner, Architekt und Marketingfachmann

Wie gelangen Sie zu Lösungen?

Die Nutzungsstrategie hat eine wichtige Basis gelegt, eine Art «Kochbuch» für die Zentrumsentwicklung. Kochen aber müssen wir selber. Die Rezepte sind zwar hier, es kommt aber darauf an, welche Zutaten man besorgen kann und wer mithilft. Es ist oft ein Improvisieren auf hohem Niveau, wie beim Kochen so üblich ... Für die Lösungssuche braucht es vor allem die Nähe zu den Akteuren. Sie wollen spüren, dass ich ihnen zuhöre, dass ich ihre Sichtweise verstanden habe und dass ich mich
einsetzen möchte. Es ist ein langsames Etablieren einer Kultur des Zusammenarbeitens. Das ist kein leichtes Unterfangen. Immerhin muss man bedenken, dass auch viel Frustration da ist aufgrund der sich wandelnden Lage im Detailhandel.

Können Sie ein Beispiel für einen Lösungsweg nennen?

Die Antwort darauf ist schon in der Frage enthalten. Die Lösung ist, wenn alle Beteiligten bereit sind, sich auf einen gemeinsamen Weg zu begeben. Dies allerdings ist erst möglich, wenn man sich der Probleme und Herausforderungen bewusst wird. Da haben die Stadtanalyse und Nutzungsstrategie eine wichtige Basis gelegt. Darauf aufbauend setze ich mit meinem Leitsatz an: Weinfelden – für ein gemeinsames Miteinander. Der grosse Erfolg des «Wyfelder Fritig» zeigt mir, dass diese Strategie Früchte trägt.

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Der «Wyfelder-Fritig» findet grossen Anklang …
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… und stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Fotos: D. Keller, mediaZeit GmbH

Gibt es eine klare Trennung zwischen Aufgaben, die bei Ihnen landen und anderen, die beim Bauamt oder beim Stadtpräsidenten liegen?

Nicht so klar. Der Erfolg liegt bei der Verzahnung. Auch wenn eine Massnahme mehr im Planungsbereich liegt, ist es wichtig, dass ich meine Perspektive einbringen kann und umgekehrt. Wir kommunizieren viel miteinander und erkennen so die Potenziale. Das scheint mir einer der Schlüssel des Erfolgs zu sein: Die Kommunikation zwischen mir und den Amtsstellen, aber auch zwischen mir und den Akteuren vor Ort. Ich bin eine Art Bindeglied, quasi ein Doppelagent ...

Ein Doppelagent?

In einem gewissen Sinne, ja. Natürlich wissen alle, dass ich für die Stadt Weinfelden arbeite. Trotzdem spricht man offen mit mir und gibt mir mehr oder weniger klar formulierte Botschaften und Anliegen mit. Das tun letztlich beide Seiten. Dieses behutsame Austauschen von Wissen, Wünschen und Möglichkeiten ist extrem wertvoll.

Kann das nicht auch direkt erfolgen zwischen den Amtsstellen und den Akteuren?

Das bezweifle ich. Martin Belz, der Chef des Bauamts Weinfelden, sagt immer wieder, dass er sehr froh sei, diese Rolle nicht spielen zu müssen. Nicht nur aus Kapazitätsgründen. Es geht auch um eine Trennung der Rollen. Man kann nicht gleichzeitig offiziell und inoffiziell sein. Das ist nicht glaubwürdig. Ich, in der Rolle des «Kümmerers» der Stadt Weinfelden, habe eine bessere Ausgangslage und werde dabei von beiden Seiten respektiert.

«Die Nutzungsstrategie ist eine Art Kochbuch für die Zentrumsentwicklung.»
David Keller, Schreiner, Architekt und Marketingfachmann

Der «Wyfelder Fritig» ist im Moment das Vorzeigeobjekt in Weinfelden. Warum?

Der «Wyfelder Fritig» symbolisiert das Dorfleben oder neu Stadtleben. Es ist ein Austausch, eine Begegnung. Natürlich darf dabei etwas gekauft und konsumiert werden. Wichtiger ist aber, dass man den Ortskern als Zentrum erlebt, als «place to be», wo man sich trifft. Dieses Gemeinschaftsgefühl ist den Menschen sehr wichtig, gerade weil es durch den Strukturwandel so gefährdet ist. Mit dem regelmässigen Anlass wird die positive Ausstrahlung Weinfeldens auch überregional gestärkt. Wir zeigen damit, dass hier eine Gemeinschaft von Laden- und Gewerbetreibenden sowie von Gastronomen lebt und arbeitet, die für Lebensqualität sorgen kann.

Warum trat dieser Effekt nicht schon beim Wochenmarkt auf, der jeweils am Freitagvormittag stattfindet?

Es ist ein anderer Typus Kunde bzw. Besucher. Am Wochenmarkt kann man sich eindecken, dazu in einer Zeit, in der viele arbeiten müssen. Am Freitagabend aber holen wir die Leute zum Apéro ins Zentrum. Sie haben Zeit, sie sind gesellig. Das Einkaufen spielt eine untergeordnete Rolle. Der Event soll aber auch einen niederschwelligen Zugang zu Geschäften ermöglichen, die von der Laufkundschaft unter der Woche eher übersehen werden.

Welche Massnahmen erweisen sich bei der Umsetzung als zäher?

Alles, was die Bereiche Planung, Bau, Gestaltung und Immobilien betrifft, braucht Zeit. Und auch alles, was mit Verkehr zu tun hat: Da braucht es erfahrungsgemäss viel Fingerspitzengefühl.

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Die Detailhändler im Gewerbegebiet von Weinfelden bieten Parkplätze direkt vor dem Laden. Für die Kundschaft ist dies komfortabler als die Tiefgarage im Ortszentrum zu benutzen. Foto: P.D. Hasler

Also klammern Sie die Themen Verkehr und Parkierung möglichst aus?

Nein. Aber wir fragen uns immer, was vordringlich ist. In Weinfelden haben wir eine komfortable Situation bei Verkehr und Parkierung. Wir haben das Parkhaus mitten im Ortskern. Die Herausforderung besteht mehr darin, dass die Leute dieses auch nutzen und erkennen, wie gut sie es haben.

Ist das ein Problem?

Ja. Auf dem «Land» will man immer vor den Laden fahren. Eine Tiefgarage ist eine Art «Abstieg». Das müssen wir aktiv angehen. Wir sind zum Beispiel daran, die Tiefgaragen freundlicher und einladender zu machen. Sie stammen immerhin aus den 1970er-Jahren. Zudem sollen die Detailhändler ihre Kundinnen
und Kunden auf die komfortable Parkierungssituation aufmerksam machen. Das Problem ist vor allem im Kopf. Auch hier ist Kommunikation angesagt.

Sie operieren, wenn immer möglich, über die Ebene Kommunikation/Marketing?

Ja, solange ein Potenzial für Veränderungen auf dieser Ebene vorhanden ist. Und das ist nach wie vor der Fall. Man darf nicht unterschätzen, was alles mit einer offenen Kommunikation, einer guten Stimmung und einer Kultur des Füreinander und Miteinander erreicht werden kann. Diese positive Entwicklung erleben auch die Kunden. Weinfelden hat in den letzten drei Jahren einen echten Schritt getan. Viele erleben die Situation zwar nicht als gelöst, aber als lösbar. Das scheint mir enorm wichtig für die ganze Stadt und stimmt mich äusserst zuversichtlich für die weitere Entwicklung des Ortszentrums Weinfelden.

Interview: Paul Dominik Hasler

Inforaum 1/2020: z.B. Weinfelden TG

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