Von der Brache zum Dorfzentrum

In der Aargauer Gemeinde Stetten entsteht im Ortskern das «Zentrum Stetten». Das Projekt ist das Ergebnis eines umfassenden Denkprozesses. Ausgelöst haben diesen eine seit 25 Jahren bestehende Brache und der Wille, diese stimmig zu überbauen, mehrere kantonale Strassenbauprojekte und der Wunsch nach einem belebten Dorfzentrum. Die Überlegungen reiften zunächst in einer Testplanung heran. Dabei fügten die Beteiligten den Dorfbach, die zukünftigen Gebäude und deren Nutzung, die ortsbildprägenden Bauten, einen echten Dorfplatz und die kantonale Ortsdurchfahrt zu einem sinnvollen Ganzen. Das Ergebnis ist heute in einem ausgeklügelten Sondernutzungsplan verbindlich festgehalten. Vieles davon ist bereits umgesetzt. Ein Augenschein im fast fertigen Dorfzentrum.
Rémy Rieder Geograf, EspaceSuisse

Das ländliche Stetten liegt im Aargauer Reusstal, am Hang zwischen der Reuss und dem Heitersberg. Als historisches Strassendorf verfügte die Gemeinde nie über einen veritablen Platz – und somit auch nie über einen Begegnungsort für die gut 2200 Bürgerinnen und Bürger. Das wird sich bald ändern: Der Kanton, die Gemeinde und ein privater Grundeigentümer haben Ende Januar 2021 das Baugesuch für den ersten Dorfplatz der Gemeinde eingereicht. Sie schlagen damit das vorerst letzte Kapitel einer langen Geschichte auf. 2023 soll diese – sofern alles nach Plan läuft – nach fast dreissig Jahren ein glückliches Ende nehmen.

25 Jahre lang prägte die Brache der Belinox AG den Ortskern von Stetten AG – ein eher trostloser Anblick. Foto: Planteam S

Brache und Kantonsstrasse prägten den Ortskern

Diese Geschichte beginnt mit einem Ende: Die Belinox AG liess im Zuge ihrer Auflösung Anfang der 1990er­Jahre ihre Fabrikanlagen in Stetten zurückbauen. Das gut 10’000 Quadratmeter grosse Areal mitten im Dorfkern lag anschliessend brach. Und prägte das Dorfbild während der kommenden 25 Jahre. In dieser Zeit wechselte das Areal zweimal die Eigentümerin.

Zweimal wurden Bauprojekte vorangetrieben, zweimal versandeten die Pläne. Gemäss Kurt Diem, Gemeindeammann (Gemeindepräsident) von Stetten, waren die Gründe dafür unterschiedlich. So habe ein Projekt vier Stichstrassen vorgesehen
mit vier Einfamilienhäusern. Doch der Investor fand keine Interessenten für die Liegenschaften. Ein weiterer Investor wollte ein Projekt umsetzen, das er offensichtlich aus der Schublade gezogen hatte. «Das hätte überhaupt nicht in den Dorfkern gepasst.»

Der Gemeinderat hatte selbstredend eine klare Vorstellung davon, wie sich der Dorfkern entwickeln sollte: «Wir wollten schon immer etwas Spezielles, etwas Besonderes und qualitativ Gutes für den Dorfkern. Wir wollten ihn beleben.» Eine nachvollziehbare Idee. Schliesslich ist das Areal gut erschlossen und liegt in unmittelbarer Nähe der Gemeindeverwaltung, des Kindergartens, der Krone und der Bushaltestelle.

Der Ortskern von Stetten AG aus der Luft, aufgenommen 2019. Quelle: Bundesamt für Landestopografie swisstopo

Entsprechend signalisierte die Gemeinde Grundeigentümern und Investoren Gesprächsbereitschaft, um die Rahmenbedingungen einer möglichen Bebauung zu diskutieren. Nicht selten hätten aber Welten zwischen den Entwicklungsvorstellungen des Gemeinderats und denjenigen der Investoren gelegen, erinnert sich Kurt Diem. Rückblickend ist der Gemeindeammann erleichtert, dass keines dieser Projekte weiterverfolgt wurde. «Wir hatten wohl auch etwas Glück. Die Altlasten auf dem Areal wirkten auf manche Interessenten abschreckend.»

Die Brache war aber nicht die einzige Herausforderung im Zentrum. Durch den Ortskern verläuft die kantonale Verbindungsstrasse K414 vom Nachbarsstädtchen Mellingen nach Künten. Wo die K414 als Oberdorfstrasse aus dem Zentrum hinausführt, verengt sie sich stellenweise derart, dass sich Personenwagen und Lastwagen kaum kreuzen können. Immer wieder staute sich der Verkehr gar kurzzeitig Richtung Dorfkern. Damals – 2006 – betrug der durchschnittliche Tagesverkehr gut 5700 Fahrzeuge, Tendenz steigend. Das war auch dem Kanton bewusst. Ausserdem war absehbar, dass sich die Verkehrsströme im Ortskern aufgrund einer ersetzten Reussbrücke südlich des Dorfes und wegen der Umfahrung von Mellingen (beides kantonale Strassenbauprojekte) verändern würden.

«Eigentlich ging es zunächst nicht darum, etwas zu bauen, sondern darum herauszufinden, wie eine gute Gesamtlösung aussehen könnte.»
Martin Eggenberger, Architekt und Raumplaner, Planteam S

Eine Testplanung für den Ortskern

Unter diesen Vorzeichen kam es 2011 zum vorerst letzten Handwechsel des Belinox­Areals: Es gelangte an die Creafonds AG. Damit erhielt die Gemeinde ein aufgeschlossenes Gegenüber für die künftige Zentrumsentwicklung. Und das Glück blieb Stetten hold: Per Zufall erfuhr der Gemeinderat über den ehemaligen Kreisplaner des Kantons, dass ein für Stetten interessantes raumplanerisches Verfahren existierte: die Testplanung (siehe Kasten «Testplanung in aller Kürze»).

Von diesem Instrument war der Gemeinderat im Nu überzeugt und steckte mit seiner Begeisterung die Creafonds AG an. Zusammen hielten sie Ausschau nach einem Planungsbüro, das sie beim bevorstehenden Verfahren unterstützen konnte. Parallel dazu gelang es, eine Erbengemeinschaft mit an Bord zu holen: Ihr Grundstück liegt an der Schlüsselstelle zwischen der Brache, der Mellingerstrasse und dem identitätsstiftenden und geschützten Restaurant Krone.

Testplanung in aller Kürze

Der Schweizerische Ingenieur­ und Architektenverein (SIA) definiert die Testplanung in seiner Wegleitung zur Ordnung SIA 143 (142i­604d) folgendermassen (sinngemäss): Testplanungen entsprechen offenen Studienaufträgen für komplexe planerische Sachverhalte, in denen die Bearbeitungsteams und das Beurteilungsgremium im Dialog nach einer bestmöglichen Lösung suchen. Der offene Austausch zwischen dem Beurteilungsgremium und den Projektteams über die Entwurfsarbeiten fördert das gemeinsame Verständnis der Aufgabenstellung, der Bedürfnisse und der Lösungsoptionen.

Zusätzlich zu den Teams und der Jury können auch Betroffene wie Politikerinnen, Grundeigentümer und Interessengruppen eingebunden werden. Ein eigentliches Siegerprojekt gibt es nicht. Alle partizipierenden Teams werden paritätisch gleichermassen entlöhnt. Die Ergebnisse einer Testplanung umfassen die planerischen Entwürfe sowie die Erkenntnisse aus dem Dialog in Form von räumlichen Strategien und Empfehlungen zum weiteren Vorgehen. Sie dienen in der Regel als Grundlagen für nachfolgende Planungsschritte.

Die Wahl für die Begleitung der Testplanung fiel auf das Planteam S mit dem Architekten und Raumplaner Martin Eggenberger, den EspaceSuisse in der Zwischenzeit als externen Experten gewinnen konnte. Er fasst die Ausgangssituation im Ortskern pointiert zusammen: «Es war eine traurige Situation im Zentrum von Stetten. Eigentlich ging es zunächst nicht darum, etwas zu bauen, sondern darum herauszufinden, wie eine gute Gesamtlösung aussehen könnte.» Für ihn sei klar gewesen, dass ein derartiges Vorhaben nur in einem Dialogverfahren angemessen behandelt werden könne.

Eine wichtige Rolle spielt in der Testplanung die Jury. Sie sieht sämtliche Projektideen, hört die Erläuterungen der Projektteams und erhält Antworten und Argumente. «Das ist ein erheblicher Vorteil», unterstreicht Raumplaner Eggenberger. «Die Argumente sind für alle sofort nachvollziehbar. Ein Argument, das die Jury überzeugt, überzeugt auch den Investor.» Und auch die anderen relevanten Beteiligten. Deshalb war die Jury für die Testplanung breit aufgestellt: Nebst dem Gemeindeammann und weiteren Gemeinderäten, den Grundeigentümerschaften und Investoren waren auch der kantonale Kreisplaner und der Leiter der kantonalen Abteilung Siedlungsentwicklung und Ortsbild Teil des Beurteilungsgremiums.

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Die enge Stelle am Eingang zum Ortskern erschwert das Kreuzen, was den Verkehr durchs Dorf ein bisschen beruhigt.
Foto: R. Rieder, EspaceSuisse

Varianten, Diskussionen und ein unverhofftes Resultat

Das Testverfahren nahm seinen Lauf: Von Dezember 2011 bis Mai 2012 erarbeiteten drei eingeladene Teams mehrere Varianten für die künftige Gestaltung des Ortskerns. An zwei Sitzungen präsentierten sie dann ihre Vorschläge. Während jeweils morgens die Vorschläge gemeinsam mit allen Teams diskutiert und Eigenheiten sowie Merkmale des Dorfkerns herausgeschält wurden, erfolgte nachmittags die Jury­interne Diskussion. «Ohne Teams kannst du offen diskutieren – und auch mal über einen Ansatz Klartext reden. Das muss möglich sein!», meint Martin Eggenberger lachend. So liessen sich die Stärken und Schwächen der Arbeiten deutlich machen.

Zusätzlich hörten auch die kantonalen Fachleute die Vor­ und Nachteile. Damit konnten sie diese später in die internen Diskussionen der Fachstellen einbringen – auch abteilungsübergreifend. Anschliessend erfolgte mit Blick auf die Weiterbearbeitung das Feedback an die Teams. So kristallisierte sich nach und nach eine Variante heraus, die an der Schlussbesprechung in der Jury auf breite Zustimmung stiess. Ohne feste Absicht lag damit am Ende ein überraschend klarer Favorit für das Richtprojekt und die Gestaltungsplanung (Sondernutzungsplanung) vor.

Im Anschluss an die Testplanung beauftragte der Investor das Team des favorisierten Entwurfs, Schneider + Schneider Architekten aus Aarau, das Richtprojekt für den Gestaltungsplan zu erstellen. Ein schönes Detail: Der Investor mochte zu Beginn der Testplanung die Vergabe des Folgeauftrags an das beste Entwurfsteam noch nicht vertraglich zusichern. Martin Eggenberger erläutert: «Man wollte sich nicht an Architekten binden, mit denen sie noch nie gearbeitet hatten. Am Ende ist aber alles goldrichtig aufgegangen.» Nicht zuletzt hat die Vergabe der Folgeaufträge an das Entwurfsteam eine nahtlose und kontrollierte Weiterbearbeitung erlaubt. 

Der Gestaltungsplan «Zentrum Oberdorf» hält eigentümerverbindlich fest, wo die künftige Bebauung zu stehen kommt, wie der Dorfplatz dimensioniert ist und wo die Kantonsstrasse verläuft. Quelle: Gemeinde Stetten

Vom Entwurf zum Verbindlichen: Wie wird Qualität gesichert?

Immer wieder leiden Projekte darunter, dass sie zwar zunächst gut durchdacht sind, aber auf dem Weg zur Umsetzung stark an Qualität einbüssen. Die Krux liegt oftmals in der Überführung der qualitätsvollen Elemente aus der vorangegangenen Entwurfs­ und Richtprojektphase in die verbindlichen Planungsinstrumente. Zur Sicherung der Qualitäten identifiziert Martin Eggenberger drei besonders wichtige Punkte:

  1. ein gut ausgearbeitetes (Richt­)Projekt,
  2. gut verfasste und erläuterte Sondernutzungsvorschriften (SNV) und
  3. Fachgutachten für die konkreten Bauprojekte.

Der Gestaltungsplan «Zentrum Oberdorf» berücksichtigt sie alle:

  • Punkt 1: Das Richtprojekt war bis Mitte 2014 derart ausgearbeitet, dass es in den Sondernutzungsvorschriften als wegleitend übernommen werden konnte. «Wenn ein gutes Richtprojekt vorliegt, dann reichen im Prinzip fünf Artikel im Gestaltungsplan. Solange einer davon das Richtprojekt als wegleitend beschreibt, ist die Sache geritzt!»
  • Punkt 2: Die SNV umfassen 27 Artikel. Einige davon sind typisch: Sie limitieren Gebäudehöhen, fixieren die Anzahl der Parkplätze und die Baufelder oder legen Fuss­ und Velowege schematisch fest. Andere Artikel gehen weiter. So wird die Nutzung der Erdgeschosse entlang der Mellinger­ und Oberdorfstrasse und rund um den künftigen Dorfplatz auf Gewerbe­, Gastro­ und Dienstleistung oder Gemeinschaftsräume beschränkt, um einen Beitrag an die Belebung des Dorfplatzes zu leisten. Oder sie schreiben für das Erdgeschoss der geschützten Krone eine reine Restaurationsnutzung vor, gewähren dafür aber einen Anbau, wenn dieser eine sehr hohe Qualität aufweist. Stellenweise wird auch die Fassadengestaltung vorgeschrieben.
  • Punkt 3: Die SNV fordern für alle Bauprojekte ein Fachgutachten, um die Qualität zu beurteilen. Für die Aussenräume muss zusammen mit dem ersten Baugesuch ein konsolidierter Umgebungsplan eingereicht werden. 
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Die Sondernutzungsvorschriften schreiben für das Erdgeschoss der Krone eine Restaurationsnutzung vor. Dafür …
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… darf ein Anbau erstellt werden – wenn die Qualität stimmt. Fotos: H. Haag, EspaceSuisse (links); R. Rieder, EspaceSuisse (rechts)

Nicht zuletzt legt der Gestaltungsplan die Ausdehnung des künftigen Dorfplatzes von Fassade zu Fassade verbindlich fest, mitsamt der Mellinger­ und der Oberdorfstrasse (K414). Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Eingriff in die kantonale Planungshoheit über die Kantonsstrasse, erweist sich bei genauerem Hinsehen als ausgeklügelte Wechselwirkung. Die SBV verweisen bei der Gestaltung des Dorfplatzes und der Kantonsstrasse konsequent auf den Abstimmungsbedarf mit dem kantonalen Betriebs­ und Gestaltungskonzept (BGK).

Der Kanton erarbeitete das BGK von 2015 bis 2016 in engem Austausch mit der Gemeinde, um sowohl die Anforderungen an den Betrieb der K414 zu sichern als auch den grundeigentümerverbindlichen Gestaltungsplan möglichst weitgehend zu berücksichtigen. Der Kanton orientiert sich bei seinen anschliessenden Strassenbauprojekten rund um die K414 am BGK (siehe Kasten «Dies sagt der Kanton»).

Eine Umsetzung mit Happy End

Seit der Genehmigung des Gestaltungsplanes im Jahr 2015 ist viel passiert. Die Creafonds AG hat das Grundstück von der Erbengemeinschaft erworben. Auf dieser Parzelle und auf dem Belinox-­Areal hat sie zusammen mit Schneider + Schneider Architekten sechs Mehrfamilienhäuser mit 14 Eigentums­ und 61 Mietwohnungen erstellt. Dazu kommen ein knappes Dutzend Büro­, Dienstleistungs­ und Gewerbeflächen sowie Freizeiträume. Zwei Einstellhallen stehen für Privatfahrzeuge und für zahlreiche Veloabstellplätze bereit. Die Fabrikstrasse wurde saniert, der ehemals eingedolte Bach gurgelt in seinem neuen Bett.

Steht man zwischen den Neubauten, schweift der Blick entlang gewohnter Sichtachsen über Grünräume zum Kirchturm oder auf den künftigen Dorfplatz oder Richtung Künten. Noch ist nicht alles fertiggestellt. Die Kantonsstrasse muss umgestaltet, die Bushaltestelle neu eingerichtet, der Dorfplatz realisiert und der Dorfbrunnen aufgestellt werden. Aber es geht weiter. 2021 soll die erste Etappe des Dorfplatzes umgesetzt werden. Das Baugesuch liegt bereits auf. Wenn alles gut geht, kann der Dorfplatz 2023 eingeweiht werden. Dazu braucht es nur ein Quäntchen Glück – und das scheint in Stetten zu wohnen.

Dies sagt der Kanton

Das Departement Bau, Verkehr und Umwelt (DBVU) des Kantons Aargau hat 2015 den Gestaltungsplan (Sondernutzungsplan) «Zentrum Oberdorf» von Stetten genehmigt. Er enthält grundeigentümerverbindliche Aussagen zum neuen Dorfplatz. Diese wirken sich auch auf die Kantonsstrasse aus und zeichnen ihren Verlauf im Ortskern vor. Es entsteht der Eindruck, dass dadurch in die Planungshoheit des Kantons eingegriffen wird. Das DBVU erklärt, welche Umstände dennoch für die Genehmigung sprachen.

«Die Testplanung und das Richtprojekt Zentrum Oberdorf bildeten eine gute Basis dafür, wie sich der Ortskern von Stetten entwickeln sollte: eine moderne, relativ dichte Bebauung, ein Dorfplatz und dahinterliegend eine unterirdische Parkanlage. Der Gestaltungsplan sichert die Resultate der Testplanung und des Richtprojekts, legt die Rahmenbedingungen der Neugestaltung im Ortskern fest und gewährleistet die Umsetzung.

Der Strassenraum war massgebend für den Erfolg der Zentrumsaufwertung. Entsprechend früh suchten alle Beteiligten den Austausch. So konnten die Rahmenbedingungen gemeinsam festgelegt sowie gestalterische und verkehrliche Ziele aufeinander abgestimmt werden. Die sehr frühe Abstimmung von Siedlungsentwicklung und Strassenraumgestaltung erlaubte es, die Weichen schon im Gestaltungsplan so zu stellen, dass das Zentrum aufgewertet und der neue Dorfplatz einheitlich gestaltet werden konnten. Deshalb umfasst der Gestaltungsplanperimeter nebst dem Neubaugebiet auch den Raum der Kantonsstrasse inklusive der angrenzenden Aussenräume – was im Kanton Aargau nicht der Regel entspricht.

Besonders herausfordernd war es, die Festlegungen bezüglich der Gestaltung und Detaillierung des Strassenraums im eigentümerverbindlichen Gestaltungsplan so auszuarbeiten, dass sie zugleich die wesentlichen Merkmale der Strassenraumgestaltung sicherten, ohne den notwendigen Spielraum des eigentlichen Strassenbauprojekts zu sehr einzuschränken.

Im Kanton Aargau werden Siedlung und Verkehr bei Strassenbauprojekten schon lange koordiniert und aufeinander abgestimmt. Ob es sinnvoll ist, die Gestaltung des Raums der Kantonsstrasse in einen Gestaltungsplan zu integrieren, hängt von diversen Aspekten ab und muss jeweils im Einzelfall geprüft werden. In Stetten war das ein Lernprozess für alle Beteiligten, und das Ergebnis ist erfreulich.»

Im Interview mit Kurt Diem 

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Kurt Diem ist seit 2006 Gemeinderat von Stetten AG. Seit 2010 ist der ausgebildete Kaufmann und Planer von Logistiklösungen Gemeindeammann (Gemeindepräsident).

Kurt Diem, Sie haben die Zentrumsentwicklung in Stetten von Anfang an begleitet. Sind Sie zufrieden mit dem
Resultat?

Wenn man so lange mit einem Projekt beschäftigt ist, ist es schön zu sehen, dass am Ende etwas passiert, etwas wächst. Vor dem geistigen Auge haben wir das Projekt ja tausend Mal gesehen! Heute sehen wir: Es ist in etwa so herausgekommen, wie es uns dazumal auf den Plänen, in den Präsentationen und Diskussionen immer wieder gezeigt wurde. Ich muss ehrlich sagen: Ich habe den Plausch und finde das Resultat schön! Die gewählten Formen und auch die Flachdächer, die wir im Dorfzentrum bewilligt haben, bestätigen die Vision, die der Gemeinderat immer vom Projekt hatte. 

Hier entsteht der künftige Dorfplatz. In den Erdgeschossen an der Mellingerstrasse (Gebäude rechts) entsteht Raum für Gastro­, Gewerbe­ und Dienstleistungsnutzungen. Foto: R. Rieder, EspaceSuisse

Was war Ihr persönliches Highlight, Ihre Kirsche auf der Torte?

Vor 40 Jahren mussten wir den Bach für eine halbe Million Franken in Röhren verlegen. Heute heisst es, dass eingedolte Gewässer bei baulichen Eingriffen möglichst wieder freigelegt werden müssen. Zuerst haben wir uns darüber aufgeregt und dachten darüber nach, den Bach in der Röhre zu lassen. Aber die Investoren haben die Bachöffnung sofort als Aufwertung des Dorfzentrums erkannt. Sie haben uns dazu motiviert, den Bach zu öffnen. Da hat es auch bei uns Klick gemacht. Im Nachhinein betrachtet war das eine sehr gute Entscheidung. Nun ist es super schön! Der geschwungene Bach zwischen den Häusern, die Natursteine und drumherum die Naturwiese – das gefällt mir am besten am Ganzen!

Gibt es auch kritische Punkte?

Die Bachöffnung hat der Gemeinde unheimliche Kosten verursacht. Um die Durchflussmengen bei schwerem Hochwasser sicherzustellen, mussten wir an einigen Stellen die Röhren vergrössern, wo der Bach weiterhin unter der Strasse verläuft. Deswegen mussten wir zusätzlich 1,8 Millionen Franken in die Infrastruktur investieren. Da sind wir schon etwas erschrocken.

«Auch die Flachdächer im Dorfzentrum bestätigen die Vision des Gemeinderats.»
Kurt Diem, Gemeindeamman Stetten AG

Das ist eine beträchtliche Summe. Wie haben Sie das Ihren Bürgerinnen und Bürgern erklärt – und und wie reagierten sie?

Ich stelle gerne alle Aspekte eines Projekts vor, auch die negativen. Das Vorgehen war unglücklich: Zuerst haben wir der Bevölkerung ein schönes Projekt mit Dorfplatz verkauft, den sie mitgestalten konnte und der von Investoren bezahlt wurde. Ein halbes Jahr später, nachdem die Zonenänderung und der Gestaltungsplan bereits angenommen waren, mussten wir nochmals einen Kredit von 1,8 Millionen Franken zu beantragen. Das hätte ich gerne vorher gewusst, das ist mein Wermutstropfen.
Aber da muss man als Gemeindeammann an der Gemeindeversammlung hinstehen und erklären, dass neue Informationen aufgetaucht sind, die bisher nicht bekannt waren. Ich musste auch klarmachen, dass sich Stetten der Sache verpflichtet hat, dass klare rechtliche Bestimmungen existieren und dass letztlich auch die Anwohnerinnen und Anwohner davon profitieren. Die Bevölkerung hat das alles verstanden.

Das Highlight für Gemeindeammann Kurt Diem: der geschwungene Dorfbach, die grossen Steine und drumherum die Naturwiese. Foto: H. Haag, EspaceSuisse

Dass die Kantonsstrasse mitten durch den Ortskern über den künftigen Dorfplatz führen soll, wurde nie kontrovers diskutiert?

Nein, das war nie ein Thema. Wir wussten von Anfang an: Die Kantonsstrasse soll in den Ortskern integriert werden. Die Idee war, das Dorfzentrum von Hauswand zu Hauswand zu gestalten. Wir wussten auch, dass der Kanton seine Strasse irgendwann sanieren musste. Die Leute des Kantons waren deshalb auch schon während der Testplanungsphase aktiv dabei. Sie haben uns dann beim kantonalen Strassenbauprojekt sehr unterstützt.

Dorfzentrum, Gestaltung von Hauswand zu Hauswand, Kantonsstrasse. Das klingt nach einer komplexen Ausgangslage. Wie gestaltete sich da die Zusammenarbeit mit den kantonalen Ämtern?

Wir, also der Gemeindeschreiber und ich, waren einige Male in Aarau und sogar bei Regierungsrat Stephan Attiger, dem Leiter des Baudepartements, um die Kantonsstrasse zu diskutieren. Bei ihm deponierten wir unseren Unmut über die anfänglichen Strassenbaupläne, die einen Kreisel mit 38 Metern Durchmesser im Ortskern vorsahen. Die Angelegenheit wurde für ihn zur Chefsache, und er hat wohl auch seine Verkehrsplaner etwas zur Raison gebracht. 

Auch mit dem Projektleiter Tiefbau war es zu Beginn ein Muskelspiel, bei vielen Punkten wollte keiner von uns nachgeben. Schlussendlich einigten wir uns darauf, dass wir beide dasselbe Ziel verfolgten: eine attraktive Dorfdurchfahrt und keine Häuser abreissen. Von diesem Zeitpunkt an war auf beiden Seiten die Bereitschaft für Kompromisse gegeben – auch ausserhalb der Normen. Die Zusammenarbeit hat dann ziemlich gut funktioniert. Aber der Kanton besteht ja aus vielen Ämtern, die sich untereinander teilweise wahnsinnig koordinieren mussten. Da herrscht auch nicht immer nur Harmonie!

«Da muss man als Gemeindeammann an der Gemeindeversammlung hinstehen und erklären, dass neue Informationen aufgetaucht sind.»
Kurt Diem, Gemeindeamman Stetten AG

Sie haben zuvor die Testplanung erwähnt. Haben Sie auch die Bevölkerung in den Prozess miteinbezogen?

Es gab eine öffentliche Mitwirkung mit Infoveranstaltung. Da kamen eigentlich nur Details zur Sprache. Ich komme auf den Bach zurück: Wegen der steilen Böschung forderte der Kanton einen Zaun um das freigelegte Gewässer. Die Bevölkerung fand das schade, denn sie wollte den Bach zugänglich machen – auch für die Kinder – und auf den Zaun verzichten. Der Gemeinderat hat dieses Anliegen ernstgenommen. Wir sind damit zum Kanton, der nach ein, zwei Sitzungen eingelenkt und mit uns nach einer Kompromisslösung gesucht hat. Auch zur Schallausbreitung kamen wichtige Hinweise.

Was war mit der Schallausbreitung?

Mehrere Bürgerinnen und Bürger äusserten an der Infoveranstaltung die Befürchtung, die Wand des Neubaus an der Mellingerstrasse sei viel zu hoch und meinten, der Schall würde dadurch in den unteren Teil des Dorfes reflektiert. Wir standen vor der Wahl: Entweder wir nehmen die Sorgen nur zur Kenntnis mit dem Risiko, dass uns im schlimmsten Fall Verzögerungen durch Einsprachen bis vor das Bundesgericht bevorstehen. Oder wir prüfen Alternativen. Die Architekten wollten das Projekt zwar nicht ändern und der Investor befürchtete Renditeeinbussen. Aber als Gemeindeammann steht man dazwischen und muss vermitteln. Im Gespräch fand sich eine Lösung (Anmerkung der Red.: siehe Bild unten), mit der alle zufrieden waren. Später, an der Gemeindeversammlung, wurde darüber nicht eine Sekunde lang diskutiert.

Anwohnerinnen und Anwohner befürchteten, dass das hohe Gebäude an der Mellingerstrasse den Verkehrslärm stärker reflektieren würde. Die Lösung: Der Mittelteil des Gebäudes wurde um ein Geschoss reduziert. Sein Dach dient den Wohnungen links und rechts als Terrasse. So verlor der Investor zwar eine Wohnung, konnte im Gegenzug dafür aber zwei aufwerten. Foto: R. Rieder, EspaceSuisse

Sie sprachen jetzt von der Mitwirkung nach der Testplanung. Wie steht es aber um die Partizipation während dieser Zeit?

Nein, da ging nichts. An der Testplanung waren nur die Grundeigentümer beteiligt. Erst mit dem favorisierten Entwurf aus der Testplanung und dem anschliessend ausgearbeiteten Richtprojekt gingen wir in eine Infoveranstaltung mit Mitwirkungsmöglichkeit. Zuletzt folgte natürlich noch die öffentliche Auflage des Gestaltungsplanes. Und beim konkreten Bauprojekt erfolgte die gesetzlich verankerte Mitwirkung im Rahmen des ordentlichen Baubewilligungsverfahrens.

Waren die Kosten der Testplanung von rund 250’000 Franken für die Bürgerinnen und Bürger nicht Grund genug, um in der Testplanung mitzureden?

Wir wussten schon früh, dass die Testplanung so viel kosten würde. Damals waren wir drei Grundeigentümer: die Gemeinde, die Creafonds AG und eine private Erbengemeinschaft. Über den Kostenteiler wurde lange diskutiert. Die Gemeinde brachte zwar kaum Land ein, wollte aber unbedingt mitreden. Die Erbengemeinschaft wollte bis zu einem gewissen Punkt mitmachen, war aber nicht bereit, den Betrag einfach zu dritteln. Schliesslich schien es allen am fairsten, den Kostenteiler anhand der eingebrachten Grundstücksfläche zu bemessen. Die Gemeinde hat also nur 25’000 Franken an die Testplanung gezahlt, was aber keinen Einfluss auf die Stimmenverteilung der Jury im Rahmen der Projektbeurteilung hatte. Für den Steuerzahler war der Beitrag also relativ unbedeutend. Daraus hat niemand ein zwingendes Mitspracherecht abgeleitet.

«Die Gemeinde brachte zwar kaum Land ein, wollte aber unbedingt mitreden.»
Kurt Diem, Gemeindeammann Stetten AG

Welchen Vorschlag geben Sie Amtskolleginnen und -kollegen mit ähnlichen Projekten auf den Weg?

Wenn eine Idee oder eine Vision vorhanden ist, lohnt es sich immer, dafür zu kämpfen. Der Gemeinderat war immer 100 Prozent vom Projekt überzeugt –, und davon, dass wir dem Dorf etwas Gutes tun. Die Bevölkerung muss frühzeitig ins Boot geholt werden. Es ist immer wichtig, dass sie Informationen von offizieller Stelle erhält. Die Gerüchteküche brodelt trotzdem, und Unkenrufe gibt’s immer. Das muss man ernst nehmen. So haben wir Warnungen und negative Meinungen immer wahrgenommen und versucht, der Kritik konstruktiv zu begegnen und sie von offizieller Stelle zu beantworten. Viele Fragen waren berechtigt! Meinen Kolleginnen und Kollegen sage ich immer wieder: Wir stehen für etwas ein; wir verkaufen Projekte an die Bevölkerung. Das schaffen wir nur, wenn wir das Feuer rüberbringen können. Man darf nicht vergessen: Am Ende sagt der Souverän Ja oder Nein. Und wenn halt mal etwas den Bach hinunter geht, dann ist das eben Demokratie.

Interview: Rémy Rieder

Inforaum 1/2021: z.B. Stetten AG

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