30 Jahre Zwischennutzung in der Schweiz

Temporäre Nutzungen von brachliegenden Räumen und Flächen gab es schon immer. Der Begriff Zwischennutzung kam mit dem Diskurs über Freiräume im Rahmen der 68er-Bewegung auf, konkreter dann mit den Jugendunruhen der 1980er-Jahre. Im Laufe der Jahre wurden Besetzungen abgelöst von Kooperationen zwischen Nutzenden und Eigentümern. Heute ist der Begriff auch in der Immobilienbranche salonfähig geworden. In den 1990er Jahren wurden mehrheitlich Gebäude zwischengenutzt, heute vermehrt Aussenflächen.

Im Mai 1980 genehmigte der Zürcher Stadtrat 60 Millionen Franken für die Renovation des Opernhauses. Gleichzeitig lehnte er die Forderungen nach einem autonomen Jugendzentrum ab. Dies war der Auslöser für die sogenannten Opernhauskrawalle Ende Mai 1980. Die Bewegung griff bald auf andere Städte in der Schweiz über. Die zentrale Forderung war selbstverwalteter kultureller Freiraum.

Freiraum ist Möglichkeitsraum

Der Begriff Freiraum ist mehrfach besetzt. Einerseits ist er im Kontext der Landschafts- und Raumplanung ein technischer Sammelbegriff für die nicht bebauten Flächen. Im Kontext der Jugendunruhen ist der Begriff inhaltlich aufgeladen; er meint Flächen und Räume, welche weniger Regulierungen aufweisen, möglichst freien Zugang bieten und kulturelle, gesellschaftliche, individuelle und wirtschaftliche Innovation begünstigen. Heutzutage werden solche Räume auch als Möglichkeitsräume bezeichnet:

«Der Begriff verweist darauf, dass Nutzungen nicht eindeutig definiert sind, dass im Gegenteil Aktivitäten und Praktiken ausgeübt und angewandt werden können, welche ein zukunftsgerichtetes Ausprobieren von Innovationen des Alltags beinhalten. Der Begriff lehnt sich an den von Robert Musil eingeführten Begriff des Möglichkeitssinns an. Möglichkeitsräume schränken a priori nicht ein, sondern ermöglichen experimentelles Handeln. Möglichkeitsräume sind Freiräume im engsten Sinn, die aber auch als Bühne für bestehende und bekannte Nutzungen dienen, welche trotz gesellschaftlicher Legitimation im übrigen Siedlungsraum keine Bleibe finden, respektive sich bei der Nutzungskonkurrenz an einem Ort nicht durchsetzen können. Solche Räume sind nach formeller Planungsrhetorik oft unfertige Orte; sie spielen aber eine wichtige Rolle bei der Selbstentfaltung, der selbstbestimmten Nutzung und einer verantwortungsvollen Teilhabe an der Stadtproduktion.» (Quelle: Mayer, Schwehr, Bürgin: Nachhaltige Quartiersentwicklung, 2011 – S. 59).

Zwischennutzung als Freiraum

Die Forderung nach Freiraum wurde vielerorts in brachliegenden Industrie- und Gewerbearealen befriedigt, zunächst als Besetzung, später mit preisgünstigen Mietverträgen. In Zürich dominierten solche Nutzungen in Zürich-West, dem Quartier Escher-Wyss im Kreis 5. Die vielen temporären Räume v.a. für Kultur, Kreativwirtschaft und Clubs haben einen Boom ausgelöst, den sich die Immobilienbranche zunutze gemacht hat und mit dem Nimbus der lebendigen Stadt einen neuen Stadtteil auf der Basis der Verwertungslogik entwickeln konnte. Bern hatte sein Zaffaraya, Genf die Squatter-Szene und Basel die Alte Stadtgärtnerei als Leitnutzungen dieser Bewegungen.

Verträge statt Besetzungen

Besonders in Basel entwickelte sich nach der Räumung der Stadtgärtnerei Raumprojekten, welche im Kollektiv von der Basis her vorangetrieben wurden. Die Rolle der Eigentümer und Behörden beschränkte sich auf das Tolerieren. Trotzdem, oder gerade deshalb, hatten sie eine grosse Ausstrahlung auf das städtische Leben. Ein Beispiel ist das «Raumschiff Schlotterbeck» eine Zwischennutzung, die – schweizweit erstmalig – mit einem befristeten Mietvertrag geregelt wurde. Weitere Projekte waren die Stückfärberei, Frobenius, Bell, Kiosk AG, Villa Epoque. Der Werkraum Warteck und das Unternehmen Mitte waren von Anfang an darauf angelegt, permanente Nutzungen zu realisieren, allerdings im Geiste der Zwischennutzung.

Räumliche Ausstrahlung

Alle diese Zwischennutzungen waren Bottom-up-Projekte, und kulturell und gesellschaftlich ausgerichtet: Mit dem Zwischennutzungsprojekt nt/areal auf dem ehemaligen Güterbahnhof der Deutschen Bahn eröffneten die Initianten eine neue Dimension. Sie deklarierten Zwischennutzung als Standortentwicklung und erhoben damit den Anspruch, dass Zwischennutzung nicht mehr nur der Selbstverwirklichung von kreativen Minderheiten diente, sondern auch Quartier- und Stadtentwicklung betrieben werden könne, indem frühzeitig urbane Qualitäten erreicht würden – Qualitäten, die sich bei herkömmlichen Quartierentwicklungen spät, wenn überhaupt, einstellen. Die Initianten benannten damit ein Phänomen: Viele Zwischennutzungen sind Nährboden für kulturelle und gesellschaftliche Innovationen, welche auch Einfluss auf die nähere oder weitere Umgebung haben und einen Austausch pflegen. Damit wirken sie positiv auf die Standortqualität.

Basel nt Areal, ohne Nutzung
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Basel nt Areal, ohne Nutzung.
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Basel nt Areal, mit Zwischennutzung "Sonntagsmarkt".

Reduzierter Fokus auf Imagepflege und Adressbildung

Seit ca. 2010 findet die öffentlichkeitswirksame Komponente von Zwischennutzung bei Behörden und in der Immobilienbranche mehr Beachtung. Den Behörden ging es einerseits um die Bereitstellung von preisgünstigem Raum für Kultur und Kreativwirtschaft, andererseits um Imagepflege und andere Marketingassets, wirkten doch die meisten extrovertierten Zwischennutzungsprojekte anziehend für Neuzuzüger und Touristen.

Quartierfreundliche Leuchttürme

So haben in den letzten zehn Jahren extrovertierte Zwischennutzungen tendenziell abgenommen, v.a. bei Objekten von privaten oder institutionellen Eigentümern. Städtische Immobilienabteilungen haben jedoch vermehrt Objekte für quartierdienliche und stadtrelevante Entwicklung zugänglich gemacht. Davon haben sich einige zu Leuchtturmprojekten entwickelt, z.B. das Neubad in Luzern, die Feuerwehrkaserne Viktoria Bern oder die Stadionbrache Zürich im Aussenraum.

Basel, Zürich und Bern mit verwaltungsinternen Stellen

In den grossen Städten Basel, Zürich und Bern wurden verwaltungsinterne Stellen geschaffen, welche sich mit Zwischennutzungen beschäftigen – jeweils mit mehr oder weniger Stellenprozenten. Diese Institutionen tauschen sich gegenseitig aus.

Aussenräume neu im Visier

Während in den 1990er-Jahren mehrheitlich Gebäuden zwischengenutzt wurden, sind in den letzten 15 Jahren vermehrt Projekte auf Aussenflächen dazu gekommen. Die meisten dienen der besseren Versorgung von Quartieren und Nachbarschaften mit Grünraum. Letzterer erfüllt nicht nur ökologische Zwecke, sondern bietet auch gemeinschaftliche Aktions- und Gestaltungsmöglichkeiten – echter Freiraum eben, der sonst in vielen Siedlungen fehlt. Immer finden solche Projekte nur auf Grundstücken statt, die sich im Eigentum der Gemeinden befinden. Wichtige Beispiele sind: Stadionbrache Zürich, Guggachbrache Zürich, Wunderkammer Opfikon, Warmbächli Bern, Terrain Gurzelen Biel, Hafenareal Basel.

Fazit aus der Geschichte

Temporäre Nutzungen von Leerständen gab es immer. Doch es gab Jahre, da wurde die Zwischenzeit mit Programm und Inhalt gefüllt, um einen Mehrwert für das Gemeinwesen zu erzielen. Das hatte raumrelevante Auswirkungen. Seit die Immobilienbranche und Marketingfachleute das Phänomen für sich entdeckt haben, lösen introvertierte Provisorien die eigentliche Zwischennutzung ab. Damit sinkt die Innovationskraft und der Mehrwert für das Gemeinwohl. Es sind eher Städte und Gemeinden, welche die Chancen und den Mehrwert von Zwischennutzung erkennen.

Bei den Bemühungen zur Innenentwicklung und der erforderlichen Verbesserung von Siedlungsqualitäten können extrovertierte Zwischennutzungen neue Bedeutung erhalten und belebende Impulse auslösen.

30 Jahre Zwischennutzung: Die ausführliche Geschichte

Futuristische Tänzerin auf Zürichs Hardturmbrache
Zwischennutzung auf der Hardturmbrache in Zürich: Auch Künstlerinnen nutzen diesen Möglichkeitsraum. (Foto: A. Straumann)