Aus Alt wird Neu

Tinizong ist ein Bergdorf an der Strasse zum Julierpass, geprägt von stolzen Bündner Häusern und alpiner Landschaft. Zum Dorfbild gehören aber auch verlotterte Ställe und viele Zweitwohnungen. Abwanderung, Überalterung und der Verlust der Grundversorgung sind Sorgen, die der 300-Seelen-Ort nur zu gut kennt. Kein Hotel, keine Post und keine Schule gibt es mehr. Doch langsam kehrt Leben zurück. In der alten Turnhalle ist ein neuer Treffpunkt entstanden: das Gasthaus «La Scuntrada» mit Dorfladen. Alte Ställe im Ortskern wurden in moderne Wohnungen transformiert. Die treibende Kraft hinter den Umbauten ist ein Zürcher Architekt. Er gleist Projekte auf und setzt sie mit Unterstützung der Gemeinde und Zweitwohnungsbesitzern um.
Annemarie Straumann, Journalistin

Wichtige Erkenntnisse aus der Revitalisierung von Tinizong:

  • Manche Berggemeinden verfügen über «unentdeckte» Ressourcen: Zweitwohnungsbesitzer und -besitzerinnen, die sich für das Überleben des Orts einsetzen wollen.
  • Ein Treffpunkt, wie das Restaurant mit Laden in der umgebauten Turnhalle von Tinizong, fördert die Revitalisierung eines Ortszentrums.
  • «Ortsbildprägende Bauten», die vor dem Verfall stehen, dürfen umgenutzt werden. Sie sollten aber (nur) mit grosser Rücksicht auf die historische Bausubstanz umgebaut werden.

Von Tiefencastel her schlängelt sich die Strasse hinauf zum Julierpass, vorbei am Tourismusort Savognin, vorbei auch am langgezogenen Strassendorf Tinizong-Rona. Die meisten fahren vorbei, doch wir stoppen hier, vor den zwei Gemeindehäusern. Das ältere ist ungenutzt, das neure beherbergt die Verwaltung der fusionierten Gemeinde Sursees. Surses entstand 2016 aus der Fusion von neun Bündner Dörfern, darunter Tinizong-Rona.

Der Wind bläst fast immer in Tinizong. Die Wasserkraft wird von zwei Kraftwerken ausgenützt. Strassenverkehr ist fast immer hörbar. Die Route über den Julierpass gehört zu Tinizongs Identität. Hier wurden einst die Pferde der Pass-Kutschen ausgewechselt. Fremde und Durchreisende haben in Tinizong Tradition.

Tinizong war einst ein Stopp der Kutschen über den Julierpass
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Tinizong GR war schon immer ein Strassendorf. Einst wurden hier die Pferde der Kutschen auf der Julier-Passroute ausgetauscht.
Tinizong Strasse durchs Dorf 2017
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Heute rollt der Auto- und Töffverkehr durch das Dorf hinauf zum Julier.

Schwindende Grundversorgung

Architekt Urs Nüesch kam 2007 aus dem Unterland nach Tinizong, auf der Suche nach einem Ferienhaus. Er fand ein altes Bauernhaus nahe der Kirche, kaufte es und baute um. Roher Stahl, roher Beton und rohes Holz verwandelten das alte Haus mit Stall und Heuschober in ein modernes Domizil, das auch in Tinzong beindruckte. Nüesch nahm Wohnsitz im Ort. Heute arbeitet er drei Tage die Woche hier, drei Tage im Raum Zürich.

Er sei eigentlich nicht zum Arbeiten in die Berge gekommen, sagt Nuesch. Doch seit er in Tinizong lebt, plant und saniert er im Dorf. Er habe herzliche Einheimische kennen gelernt. «Ich bin einer, der auf die Leute zugeht», sagt Nüesch. So hörte er auch von den Sorgen der Gemeinde. Vom Gemeindeschreiber erfuhr er, wie sehr die schwindende Grundversorgung in Tinizong beunruhigte. Seit 2003 fehlten der Dorfladen und die Bank. 2009 schloss auch die Poststelle, 2013 machte das letzte Hotel und Restaurant zu. Und die Dorfschule stand vor dem Aus. Die Jungen wanderten ab.

Architekt Urs Nüesch
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Unterländer Archtitekt Urs Nüesch: Seit er in Tinizong lebt, plant und saniert er im Dorf.

Architekt Nüesch ergriff die Initiative. Er sah sich das alte Schulhaus mit der Turnhalle an, digitalisierte es (gratis) und organisierte 2011 einen ersten Workshop mit «Opinion Leaders» des Dorfs, Gemeinderäten und Handwerkern. Das Ziel: eine Problemanalyse. Die Erkenntnis: Die Fusion der Dorfschule mit jener in Savognin ist unausweichlich. Das Schulhaus sollte aber zugunsten des Dorflebens anders genutzt werden.

2012 fusionierte die Schulgemeinde mit Savognin. Nüeschs erste Idee, die Tinizonger Schule neu als Tagesschule umzunutzen, verlief sich aber im Sand.

«Zweitwohnungsbesitzer» als Ressource erkannt

Doch 2014 fand in Tinizong ein zweiter Workshop statt, dieses Mal unter dem Titel «Stärkenorientierte Siedlungsentwicklung im ländlichen Raum». Anlass war die Aussicht auf Bundesgelder durch die Eingabe eines Projekts als «Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung», wie es auf Bundesdeutsch heisst.

Architekt Nüesch, Vertreter der Gemeinde und des Kantons Graubünden, private Liegenschaftseigentümer und Zweitwohnungsbesitzende sowie Experten des Raumplanungsverbands VLP-ASPAN (heute EspaceSuisse) besprachen Ideen, wie das unternutzte Dorf durch Siedlungsentwicklung nach innen wieder belebt werden könnte. Schon damals fiel auf, wie stark Tinizong auf eine besondere Stärke setzen konnte: Wohlhabende und engagierte Zweitwohnungsbesitzer. Das Tinizonger Projekt wurde vom Bund zwar nicht in den Kreis der unterstützten Modellvorhaben aufgenommen. Den Kopf liess man in Tinizong darob nicht hängen.

Gemeinde sagt Ja zur «Zusammenkunft»

Nüesch, mittlerweile in die Geschäftsprüfungskommission der Gemeinde gewählt, sah bald Schwarz auf Weiss, wie viel die Aufrechterhaltung des Schulgebäudes kostete, allein schon die Heizung. Auch erhielt er eine Übersicht über die zahlreichen Liegenschaften, die brachlagen und an Wert verloren.

«Da hatte ich die Idee: Machen wir doch ein Restaurant mit Laden aus der Turnhalle!»
Architekt Urs Nüesch

Gesagt, getan. In seinem Architekturbüro im Unterland visualisierte er die Idee und brachte einen Ausdruck in den Gemeinderat. Wie viel kostet das?, war die grosse Frage. Nüesch schätzte eine honorarberechtigte Bauherrensumme von 1,9 Millionen Franken, riet aber zu einer Vorstudie. Doch dem Gemeinderat gefielen die Pläne offenbar so gut, dass er direkt mit einem Kreditgesuch an die Gemeindeversammlung gelangte. Diese genehmigte im Herbst 2014 mit 38 Ja- zu 7 Nein-Stimmen einen Kredit über 1,9 Millionen Franken für den Umbau der Turnhalle in ein Dorfzentrum. «La Scuntrada» sollte es heissen, Romanisch für «die Zusammenkunft».

Tinizong, Restaurant La Scuntrada in der alten Turnhalle
Die alte Turnhalle in neuem Glanz: Bis vor wenigen Jahren diente das Gebäude rechts als Turnhalle. Heute beherbert es das Restaurant «La Scuntrada».

Mit einem Fest verabschiedeten die Tinizonger die alte Turnhalle. Dann wurde gebaut. Am 1. Juli 2016 folgte die Eröffnung des Restaurants «La Scuntrada» mit Dorfladen.

Tinizong GR, alte Turnhalle Innenraum
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Tinizong GR: Die frühere Turnhalle innen.
Tinizong GR, alte Turnhalle
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So sah die alte Turnhalle vor dem Umbau aus. Die Fenster waren kleiner.

Alte Turnhalle blüht als Restaurant wieder auf

Der Gastraum und die offene Küche wirken heute hell und originell. Die Turnhallenfenster sind noch grösser als zuvor. Bündner Stil wurde mit Turnhallen-Reminiszenzen und modernem Mobiliar kombiniert: Von der hohen Decke hängen alte Turn- und Schaukelringe, daran befestigt Ikea-Lampen.

Die Forelle aus dem nahen Fluss Julia schmeckt ausgezeichnet. Der junge Wirt Carlo Uffer aus dem Nachbardorf führt das Restaurant zusammen mit seiner Partnerin Lorraine Meier als Pächter. Im kleinen Laden des «La Scuntrada» finden sich regionale Produkte aus dem Parc Ela, präsentiert in einem Leiterwagen. Das Lädeli führt aber auch Alltagsprodukte wie Waschmittel. Eine alte Sprossenwand dient als Garnitur.

Am Stammtisch, gezimmert vom lokalen Zimmermann Meinrad Poltera, lassen Einheimische den Sommerabend ausklingen, darunter Leo Thomann, Gemeindepräsident der fusionierten Gemeinde Surses. Aus rein wirtschaftlicher Sicht der Gemeinde seien der Umbau der Turnhalle und der Betrieb als Restaurant mit Dorfladen kein rentables Geschäft, sagt Thomann. Die Gemeinde habe bisher rund 2,3 Millionen Franken investiert. Doch sei «La Scuntrada» wichtig für das Dorfleben. «Die Investition dient dem sozialen Aspekt», so Thomann. Die Gemeinde begrüsse Umnutzungsprojekte. «Vor allem jetzt, da wir keine neuen Zweitwohnungen mehr bauen können, sind Umbauten eine Chance für die Region.»

Förderverein unterstützt den Betrieb

Damit der Betrieb des «La Scuntrada» gesichert ist, haben Architekt Urs Nüesch und seine Frau Tina Nüesch einen Förderverein gegründet. Dessen Ziel ist es, das Dorfleben zu reaktivieren, in Zusammenarbeit von Einheimischen und Zweitwohnungsbesitzern. Das Fördermodell ist speziell: Die Mitgliedschaft kann via die Website von «La Scuntrada» beantragt werden. Man bezahlt eine Jahresgebühr von 50 Franken. Zudem bringt jedes Mitglied einmalig einen Geldbetrag ein: Private wählen zwischen 200 und 10'000 Franken, Firmen zahlen zwischen 500 und 50'000 Franken. Das Geld wird als Darlehen für die Einrichtung und den Betrieb des «La Scuntrada» eingesetzt. Mitglieder erhalten 3% Zins; ausbezahlt wird dieser Zins aber in Form von Konsumationsgutscheinen, einlösbar im «La Scuntrada». So sorgt man gleich für Gäste am neuen Dorftreffpunkt. Auch Architekt Nüesch hat einen namhaften Beitrag einbezahlt. Somit darf sich er jährlich für einige Hundert Franken Zinswert in Restaurant und Laden verköstigen. Rund 120 Mitglieder hatte der Förderverein 2017, je zur Hälfte Einheimische und Zweitwohnungsbesitzer.

Zweitwohnungsbesitzer investieren in Stallumbauten

Auch die Kägis sind Mitglieder. Die Unterländer Familie besitzt seit Langem einen Zweitwohnsitz in Tinizong. Nüesch nennt sie Mäzene. Denn die Familie Kägi kauft im Bergdorf Immobilien und investiert in Umbauten, obwohl diese risikobehaftet sind (vgl. unten stehendes Interview mit Sergio Kägi). Zuletzt hat Architekt Nüesch zwei ehemalige Ställe hinter dem Restaurants «La Scuntrada» für Kägis umgebaut. Kägis hatten die Ställe inklusive Bauernhaus und Jauchegrube einem alten Bauern abgekauft. Die Ställe gelten, wie viele in Tinizong, in der Gemeinde als «ortsbildprägende Bauten». Solche dürfen umgebaut werden, wenn sich dadurch ihr Erhalt sichern lässt (vgl. Infobox «Ortsbildprägende Bauten»).

«Manche Berggemeinde könnte Zweitwohnungsbesitzer als Mäzene aktivieren – Leute, die den Ferienort lieben und sich für dessen Erhalt und Lebendigkeit engagieren.»
Urs Nüesch, Zürcher Architekt in Tinizong

«Ortsbildprägende Bauten» – ein neuer Begriff

2012 hat das Schweizer Stimmvolk die Zweitwohnungsinitiative «Schluss mit dem uferlosen Bau von Zweitwohnungen!» angenommen. 2016 trat das Bundesgesetz über Zweitwohnungen (Zweitwohnungsgesetz, ZWG) in Kraft, sowie die Zweitwohnungsverordnung (ZWV). Im Prinzip dürfen in Gemeinden mit einem Zweitwohnungsanteil von 20 Prozent keine neuen Zweitwohnungen mehr bewilligt werden. Das Parlament hat aber viele Ausnahmen eingebaut.

Als Folge der komplizierten Bestimmungen blieben Fragen zur Umsetzung offen. Etwa die Frage, was als eine «ortsbildprägende Baute» gelten soll. In solchen Bauten dürfen laut Gesetz (Art. 9 ZWG) ausnahmsweise doch neue Zweitwohnungen erstellt werden.

Der Kanton Graubünden hat 2018 zwei Leitfäden für Gemeinden und Planende publiziert. Darin wird erklärt, wie man «ortsbildprägende Bauten» identifiziert, was der Sinn des Ortsbildschutzes ist, und welche Möglichkeiten zur Umnutzung von alten Bauten es gibt. (Mehr Infos).

Investor Sergio Kägi reiste diesen Sommer 2017 von seinem Arbeitsort in Australien an, um die umgebauten  Ställe zu besichtigen. Von Ställen kann jedoch keine Rede mehr sein. Zwar sind Volumen und Form noch gleich. Auch wurde das alte Holz – mächtige Balken und Bretter – eins zu eins wieder an der früheren Position verbaut. Doch im Innern sind die Ställe zu lichten Wohnungen geworden, modern ausgestattet im alpinen Chic. Nüesch sagt, im Grunde habe er «ein Haus im Stall» gebaut. Bei seinem Besuch zeigte sich Investor Kägi erfreut. Vor allem die Holzarbeiten von Zimmermann Poltera gefielen. Die Familie Kägi hatte bewusst lokale Handwerker engagiert. Selbst wenn dies das Bauen nicht etwa billiger als im Raum Zürich mache.

Umgebaute Stallbaute in Tinizong
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Umgebaute Stallbaute in Tinizong. Wie stark der Eingriff in ortsbildprägende Bauten sein darf, sollte gut abgeklärt werden.

Die neuen Wohnungen in den ex-Ställen dürften voraussichtlich an Zuzüger oder Zweitwohnungsgäste vermietet werden. Das zugehörige Bauernhaus, dessen Umbau schon Anfang 2017 beendet wurde, richtet sich hingegen her eher an Einheimische.

Tinizong, früheres Bauernhaus
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Tinizong, früheres Bauernhaus.
Tinizong, Neubau an Stelle des früheren Bauernhauses
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Tinizong, Neubau des Investors Kägi an Stelle des früheren Bauernhauses.

Sehen und Gesehen werden

Haben «La Scuntrada» und die Bauernhaus- und Stall-Umbauten schon etwas bewirkt in Tinizong? «Das Dorfzentrum ist jetzt viel belebter als noch vor einigen Jahren», sagt Zimmermann Poltera. Auch Einheimische würden wieder in Umbauten an ihren Häusern investieren. Doch das Wichtigste: Es gibt wieder Restaurant und Laden im Dorf, einen Treffpunkt zum Plaudern. Und zum «Sehen und Gesehen werden», wie Architekt Nüesch sagt. Letztere Funktion erfüllt das Gartenrestaurant zur Strasse hin: Wer hier ein Bierchen trinkt, hat nicht nur Dorfplatz und Kirche im Blickfeld. Er sieht auch, was auf der Strasse läuft.

Die Arbeit ist indes noch nicht getan. Noch gibt es weitere, sanierungsbedürftige Gebäude im Dorfinnern. Unweit des «La Scuntrada» steht so eines. «Das könnte man in ein Gästehaus für Scuntrada-Gäste umbauen, um auch wieder mehr Touristen anzulocken», sagt Nüesch. Entschieden sei aber noch nichts, alles eine Frage des Geldes. Doch für den Architekten ist klar: «Wir müssen Tinizong weiter beleben.»

Zeittafel Tinizong: Schritte zur Belebung des Dorfs
  • 2006/07: Sanierung der Ortsdurchfahrt. Gestaltung eines Dorfplatzes vor der Kirche (dank Abriss einer Garage, Pflästerung, Bepflanzung, Beleuchtung, Trottoirs).
  • 2011: Workshop zur Zukunft der Schule und des Dorflebens.
  • 2014: Schule/Kindergarten in Tinizong wird aufgegeben. Gebäude steht nun leer.
  • 2014 (Feb.): Workshop mit Zweitwohnungsbesitzern und Vertretern der Gemeinde, des Kantons und der VLP-ASPAN über «Stärkenorientierte Siedlungsentwicklung im ländlichen Raum».
  • 2014 (Okt.): Gemeindeversammlung von Tinizong-Rona bewilligt einen Kredit von 1,9 Millionen Franken zur Umnutzung der alten Turnhalle.
  • 2015 (Feb.): Baubewilligung für den Umbau der Turnhalle ins Restaurant «La Scuntrada».
  • 2015 (Aug.): Gründung des Fördervereins «La Scuntrada», um diesen Begegnungsort für Einheimische und Zweitwohnungsbesitzer langfristig zu unterstützen.
  • 2016 (Jan.): Gemeindefusion: Tinizong-Rona fusioniert mit Bivio, Cunter, Marmorera, Mulegns, Riom-Parsonz, Salouf, Savognin und Sur zur neuen Gemeinde Surses.
  • 2016 (Juli): Eröffnung des «La Scuntrada» in Tinizong (übersetzt: die Zusammenkunft).
  • 2016/2017: Private Investoren lassen benachbarten alten Bauernhof mit zwei Ställen in moderne Mietwohnungen umbauen.
Tinizong. Umgebautes Bauernhaus im Dorf.
Aus Alt wird Neu, und Neu wird mit Alt kombiniert. Der Neubau des INvestors Kägi hat ein altes Bauernhaus ersetzt und grenzt an ein bestehendes Bauernhaus in Tinizong. (Fotos: Annemarie Straumann)

Interview mit Sergio Kägi

«Ohne Herzblut für Tinizong wäre eine Investition nicht so interessant gewesen»
Sergio Kägi, Investor

Herr Kägi, Sie sind eben aus Australien angereist, um die jetzt im Sommer fertig umgebauten Ställe zu besichtigen. Wie gefallen sie Ihnen?

Ich bin begeistert. Zuletzt sah ich die Arbeiten im Dezember 2016, als alles noch im Rohbau war. Jetzt bin ich stolz. Das sind keine 0-8-15-Wohnngen. Sie sind etwas Besonderes.

Sergio Kägi vor einem umgebauten Stall
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Investor Sergio Kägi hat Wurzeln in Tinizong.

Was motiviert Sie, in einem Bergdorf in Umbauten zu investieren?

Meine Grossmutter stammt von Tinizong. Als Kind habe ich hier oft Ferien verbracht. Noch heute nutzt unsere Familie das Ferienhaus. Aber es gibt drei Gründe für mein Engagement: Erstens habe ich Herzblut für das Dorf. Zweitens hat mich die Gemeinde bei meinem Vorhaben unterstützt. Da war viel Goodwill zu spüren. Drittens bin ich finanziell in der Lage, so ein Projekt zu stemmen.

Lohnt es sich denn auch?

Ich halte es für eine sinnvolle Investition in die Gemeinde. Ich erhoffe mir davon, dass sich eine Rendite erzielen lässt, wenn auch keine hohe. Natürlich trage ich ein finanzielles Risiko. Und es stimmt schon: Ohne Herzblut für Tinizong und die Region wäre für mich eine Investition hier nicht interessant gewesen. Im Raum Zürich hätte ich mit weniger Risiko bauen können.

Ist das Bauen im Bestand eines Bergdorfs nicht billiger als im boomenden Raum Zürich?

Wir haben hochwertig gebaut. Meine Investition in Tinizong war mit über 3 Millionen Franken genauso hoch oder gar höher, als wenn ich im Unterland gebaut hätte. Engagiert habe ich lokale Unternehmen aus der Region. Die sind nicht billiger als im Unterland. Ihre Arbeiten sind aber aussergewöhnlich gut.

Es ist zudem schwieriger, ein altes Gebäude zu renovieren als ein neues zu bauen. Aber ich hoffe, dass es noch mehr Renovationen im Dorf geben wird.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, diese alten Ställe umzubauen?

Der frühere Besitzer des Bauernhofs wollte sich zur Ruhe setzen. Wir hörten im Dorf, dass er verkaufen will. Unsere Familie hatte kein Interesse daran, dass die Gebäude abgerissen und womöglich durch hässliche Blöcke ersetzt würden. Also habe ich das Bauernhaus inklusive der Ställe, Miststock und Jauchegrube gekauft. Die Gemeinde hat mir den Architekten Urs Nüesch vermittelt. 2014 nahm ich mit ihm auch an einem Workshop zur Erneuerung des Dorfs teil. Das Dorf entwickelte sich damals in eine eher traurige Richtung, nachdem auch die Schule schliessen musste.

Im Bauernhaus haben Sie auch zwei moderne Wohnungen realisiert. Jener Umbau war schon im Winter 2017 beendet, aber Mieter fanden Sie nicht sofort. Woran liegt's?

Die neuen Wohnungen mit Altholz-Charakter im ehemaligen Bauernhaus richten sich sowohl an Zuzüger und Einheimische als auch Unterländer. Dieser Markt ist momentan nicht so gross. Auch kennen viele Unterländer Tinizong nicht.

Die jetzt fertigen, edlen Wohnungen in den beiden früheren Ställen dürften einfacher zu vermieten sein dank ihrem Chalet-Charme. Die Miete (ca. 2'500 Fr.) wird zwar höher sein als im Bauernhaus, aber die Wohnungen sind sehr exklusiv und vermutlich als Zweitwohnung für Unterländer interessant. Ich würde gern darin wohnen, nur in meiner jetzigen Berufssituation geht das nicht.

Was die Vermietung angeht, bin ich aber zuversichtlich. Mit dem Restaurant «La Scuntrada» ist die Attraktivität Tinizongs gestiegen. Auch erwarte ich, dass durch die Gemeindefusion noch mehr Schwung in die Gemeinde kommt.

Wie hat die Gemeinde mit Ihnen zusammengearbeitet?

Die Gemeinde zeigte Enthusiasmus. Sie kam auf uns zu. Auch hat sie bei gewissen Fragen, etwa der Frage, wo die Parkplätze hinkommen, nicht blockiert, sondern diverse Optionen angeschaut. Das zeigte: Es gibt ein Miteinander zwischen Investoren und Gemeinde.

Haben Sie als Investor einen Rat für andere Berggemeinden?

Die Gemeinden sollten eine grosse Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Investoren zeigen. Sie sollten offen sein für Neuzuzüger. Wir müssen uns hier in den Bergen verändern. Das geht nur, wenn es eine Symbiose zwischen Unterländern und Einheimischen gibt. Wir haben genug Leute mit Expertise und Ideen in der Schweiz. Umsetzen lassen sich Ideen aber nur, wenn die Gemeinde dazu bereit ist. Investoren nehmen das finanzielle Risiko nur auf sich, wenn sie von Politik und Gemeinde unterstützt werden.

Haben Sie auch einen Ratschlag für Zweitwohnungsbesitzer?

Sie sollten den Kontakt mit den Einheimischen suchen. Und Projekte entwickeln, die zum Dorf passen. Also zum Beispiel nicht einen Block mit 20 Wohnungen, die dann über Airbnb vermietet werden, in ein Bergdorf stellen. So etwas wird einem Ort nicht viel bringen. Besser sind Gäste und Bewohner, die hier länger leben und konsumieren.

Hat die Zweitwohnungsinitiative Ihre Investitionen irgendwie beeinflusst?

Ja, den Umbau des Bauernhauses konnte ich nicht in dem Umfang tätigen, wie ursprünglich geplant. Ich hatte mehr Volumen und mehr kleinere Wohnungen darin geplant. Kleinere wären wohl einfacher zu vermieten gewesen. Das Gebäudevolumen musste ich etwas reduzieren und konnte nur zwei, dafür grosse 4,5-Zimmerwohnungen einbauen. Eine andere Folge ist, dass viele Investoren und Zweitwohnungsbesitzer bis heute nicht wissen, was eigentlich erlaubt ist und was nicht.

Haben Ihre Investitionen schon etwas Schwung in die Gemeinde gebracht?

Ja, ich denke, die Investitionen im Dorfzentrum setzen Anreize für Nachbarn. Gewisse Einheimische und Zweitwohnungsbesitzer zeigen wieder Appetit, hier zu investieren.

Stallscheune in Tinizong
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Das nächste Projekt des Investors? Auch für diese Stallscheune bestanden 2017 Pläne, sie in Wohnraum umzuwandeln.

Studentenarbeit zu Tinizong GR

Im Herbstsemseter 2018 haben Max Eschler, Cécile Kühn, Florin Rüdisühli und Dean Shirley das Beispiel Tinizong neu erzählt und digital inszeniert.

Das Ergebnis ihrer Arbeit ist ein kurzes Video, das zugleich Konzept ist für ein «Scrollytelling». Es berichtet knapp und bunt über die Entwicklung in Tinizong und soll ein jüngeres Publikum ansprechen.

Das Semesterprojekt war Teil des Bachelorstudiengangs «Multimedia Production (MMP)» der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur (HTW).
EspaceSuisse betreute zwei Gruppen Studierende auf Anfrage des Bundesamtes für Raumentwicklung (ARE).

Auf der Plattform «climatescape.ch» sind alle Arbeiten ausgestellt.

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