Massagno, Radice

Mit 8684 Einwohner:innen pro km2 liegt das Eingangs Lugano gelegene Massagno hinter der Stadt Genf auf dem zweiten Platz der am dichtesten besiedelten Gemeinden der Schweiz. Mit dem Verkauf der letzten grossen Liegenschaft – einer Villa mit grossem Umschwung mit zugehörigem Ökonomiegebäude –, begann ein Dialog zwischen den Bauherren, der Gemeinde und den Direktbetroffenen. Ein erstes Ziel war es, den Baumbestand der Residenz zu retten, ohne jedoch auf die Verdichtung verzichten zu müssen. Mit dem Resultat, dass die Gemeinde auf diesem privaten Grundstück einen öffentlichen Park und eine neue Quartierverbindung für den Langsamverkehr schaffen konnte.
Alain Beuret, Architekt und Raumplaner, EspaceSuisse

In die Höhe verdichten 

Im kommunalen Nutzungsplan war für die 16’000 m2 grosse Parzelle eine Dichte von 1,1 eingetragen, was einer Bruttobodenfläche von ungefähr 17’600 m2 entspricht. Die einfachste Option für die neue Besitzerin SwissLife hätte darin bestanden, das Herrenhaus und den Garten dem Erdboden gleichzumachen und flächendeckend ein neues Wohnquartier zu bauen. Dafür hätte ein einfaches Baugesuch ausgereicht. 

Bei der Prüfung verschiedener Varianten stiess der beauftragte Architekt Remo Leuzinger auf eine interessante Idee: Die Bauordnung der Gemeinde bot die Möglichkeit, einen Quartierplan zu erstellen, mit dem es in Absprache mit der Gemeinde erlaubt wäre, die für die Zone zugelassene Gebäudehöhe zu erhöhen. Dieses Planungsverfahren ist zwar aufwändiger, ermöglicht aber, von der ursprünglichen Maximalhöhe von 13 m abzuweichen. 

Der Radice-Komplex hat einen öffentlichen Park mit einer neuen Quartierverbindung für den Langsamverkehr schaffen. Foto : Studio Remo Leuzinger

Ein Park für die Gemeinde 

Die Eigentümerin und der Architekt überzeugten die Gemeinde und den Kanton, auf dem Einzelgrundstück einen Quartierplan zuzulassen. Die Genehmigung wurde aber mit der Auflage verbunden, dass rund die Hälfte der Parzelle in einen öffentlich zugänglichen Park umgewandelt wird. Dieser «Deal» schaffte für alle Parteien Vorteile: Dank Erhöhung der Maximalhöhe kam die Eigentümerin zu Prestigewohnungen mit freiem Seeblick. Die Gemeinde ihrerseits erhielt eine neue öffentliche Grünanlage, die zum Allgemeinwohl beiträgt, ein klimafreundliches Umfeld schafft und letztlich auch noch neue Wege für den Langsamverkehr erschliesst. 

Dieses gemeinsame Vorgehen macht Sinn – Massagno ist eine sehr dicht besiedelte Gemeinde mit nur wenigen Grünflächen und aufgrund ihrer Lage neben der Autobahnausfahrt Lugano-Nord wird sie täglich von dichten Auto- und Schwerverkehr belagert. Jeder Quadratmeter mehr Grün bringt so eine verbesserte Wohnqualität. Unter den Städten mit mehr als 50’000 Einwohner:innen verzeichnet Lugano mit 617 Autos pro 1000 Einwohner:innen die meisten PW-Zulassungen in der Schweiz (Durchschnitt in den Schweizer Städten: 472). Folglich ist es fast nicht möglich Spazierwege durch Massagno zu finden, ohne ständig vom Strassenverkehr belästigt zu werden. 

Auf dem Weg zum Bahnhof 

Um die Einwohnerinnen und Einwohner dazu zu bewegen, den Langsamverkehr zu nutzen, sind Investitionen in nutzerfreundliche Alternativen notwendig. Der neue Park leistet seinen Beitrag dazu: Er ermöglicht eine angenehme und effiziente Fortbewegung abseits vom Strassenverkehr zwischen dem Arbeiterviertel im Norden (Via Generale Henri Guisan) und der Kreuzung der fünf Strassen im Süden der Gemeinde, wo sich Geschäfte, Restaurants und die Bushaltestelle befinden. Der Park bietet eine willkommene Atempause in den Quartieren zwischen zwei grossen Naherholungsgebieten der Agglomeration: dem Muzzanosee und dem Parco dei Tre Pini in Savosa. 

Die Gemeinde plant jedoch noch weiter: Sie sieht vor, einen 600 m langen und zwischen 30 und 40 m breiten Park zu verwirklichen, der das Zentrum von Massagno über das bestehende Bahntrassee direkt mit dem Bahnhof von Lugano verbindet. Der neue Park ist Teil des Agglomerationsprogramms und Gegenstand einer gemeindeübergreifenden Planung mit der grossen Nachbarin, die gleichzeitig die Gelegenheit nutzen will, um in der Nähe des Bahnhofs Lugano neue Gebäude für den Campus der Fachhochschule Südschweiz SUPSI zu errichten. 

Alle Wohnungen sind durchgängig oder Eckwohnungen, wodurch alle Bewohnenden mehrere Ausrichtungen haben. Foto : G. Marafioti

Neue Wohnungen 

Die neuen Gebäude auf der Liegenschaft in Massagno bieten insgesamt 167  Mietwohnungen mit zwei bis sechs Zimmern und interessanten Raumanordnungen: Alle Wohnungen sind durchgängig oder als Eckwohnungen geplant, wodurch die Bewohner in Ihren Privaträumen mindestens zwei unterschiedliche Aussenbezüge haben. Die Zwischendächer sind begrünt und auf dem Hauptdach hat es eine PV-Anlage. Die Überbauung entspricht dem Standard Minergie-P-Eco. Massagno verfügt über das Label «Energiestadt». 

Der Entwurf des Quartierplans und die Baubewilligung wurden den Anwohnern an einer öffentlichen Informationsveranstaltung vorgestellt, während der sie Fragen stellen und Bemerkungen anbringen konnten. Die Akzeptanz für das Projekt seitens der Bewohner zeigte sich auch darin, dass bei der öffentlichen Auflage lediglich eine Einsprache behandelt werden musste. Der Einsprecher stellte Fragen zur Mobilität, die im Verlaufe der Einigungsverhandlungen rasch gelöst werden konnten. 

Wurzeln im Freiland 

Dank der höheren Bauweise beanspruchen die Gebäude nur einen Viertel und die Tiefgarage etwa einen Drittel der Parzellenfläche. Über die Hälfte der Bauparzelle ist nicht unterkellert, wodurch die Baumwurzeln frei wachsen können. Dies gab dem Park auch seinen Namen: «Radice» ist das italienische Wort für Wurzel. Fast alle hundertjährigen Bäume im Garten der alten Villa konnten dank der Parkplanung gerettet werden.  

Mit Wildblumenwiesen, einem neuen Obstgarten und einem nicht zugänglichen natürlichen Regenerationsbereich im Süden der Gebäude, der den Strassenlärm der Via Lepori dämpft, begünstigt der Park auch die Biodiversität. Das Regenwasser wird gesammelt und für die Bewässerung genutzt. Die Landschaftsarchitektin Sophie Ambroise der Officina del Paesaggio verwendete lokale Materialien, die wenig Unterhalt erfordern, und verfasste ein Pflichtenheft für die Gebäudeverwaltung, damit die Grünanlagen extensiv und in Abstimmung mit der Biodiversität gepflegt werden. Dies führt neben den genannten Vorteilen gleichzeitig auch zu finanziellen Einsparungen.  

 

Dem Klima angepasste Bäume 

Für die Anpassung an den Klimawandel wurden die Neupflanzungen in Etappen angedacht: Kleine schnellwachsende Bäume mit essbaren Früchten wurden in der Nähe der Gehwege gepflanzt, während etwas abseits der Wege langsamer wachsende Bäume, die sich gut für das mediterrane Klima eignen, künftige Generationen erfreuen werden. 

Drei große, begrünte "Nester" aus Holz laden zum Ausruhen ein. Foto : Officina del Paesaggio

Rückzugsorte in der Natur 

Als Gegenstück zu diesem eher wild wachsenden Park plante die Landschaftsarchitektin drei grosse begrünte «Nidi» aus Holz (italienisches Wort für Nester). Dies sind gut zugängliche, «gebändigte» Bereiche, die inmitten des neuen Quartiers einen Rückzugsort für einen Schwatz, eine Atempause bieten oder zum Meditieren einladen. Mit einem Spielplatz und elf Schrebergärten im Norden übt der Radice-Park auch eine soziale Funktion aus. Diese Anlagen können von allen Bewohner:innen von Massagno genutzt werden. 

Gegensätze erfolgreich in Einklang gebracht 

Die Wohnüberbauung ist in mehr als einem Sinn exemplarisch. Sie zeigt, dass scheinbar widersprüchliche Ziele und Bedürfnisse vorzüglich in Einklang gebracht werden können: Förderung der Natur und Biodiversität am Fuss der Gebäude beim Bau neuer Wohnungen, luxuriöse Wohnungen bei gleichzeitiger Öffnung der privaten Parzelle für die Öffentlichkeit, Bau eines kompakten Quartiers und Schaffung neuer Wege. Zur Verfügungstellung eines hochwertigen Raums für Begegnung, Spiel, Gartenbau und Meditation, just neben einem Autobahnzubringer. 

Dies alles ist nur möglich, wenn der Bauherr und seine Planer ab Projektbeginn und bis zur Einweihung offen ist für eine Diskussion und den laufenden Dialog zwischen Gemeinde, Nutzern und Anwohnern. In Zukunft wird die Herausforderung darin bestehen, die öffentliche Grünanlage auf privatem Grund langfristig auf alle Parteien abgestimmt und zu deren Zufriedenheit zu unterhalten. 

Le parc Radice offre un espace public de qualité dans un quartier compact. Photo : Studio Remo Leuzinger
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