Rückzonung mit Nutzungskonzentration

Tourismusregionen stecken im Clinch: Soll man sich um das intakte Landschaftsbild kümmern? Oder muss man aus wirtschaftlichen Gründen nicht auch ein Siedlungswachstum zulassen? Die Oberengadiner Gemeinde Sils hatte in den 1960er-Jahren eigentlich Letzteres im Sinn. Ein vollständiges Überbauen der Ebene zwischen Silser- und Silvaplanersee wäre vor rund 40 Jahren rechtlich möglich gewesen. Inzwischen wurde der Fehlstart in der Ortsplanung korrigiert, mithilfe kollektiver Beteiligungsprozesse.
Paul Knüsel, Dipl. sc. nat. ETH/CAS Raumplanung, freier Wissenschaftsjournalist BR

Schwitzt das Unterland bei brütender Hitze, lädt das Engadin zur angenehmen Sommerfrische. Sobald die grossen Schulferien beginnen, reisen Gäste aus aller Welt deshalb gerne ins idyllische Bündner Hochland. Am Bahnhof in St. Moritz warten gut gefüllte Postautos auf verspätete Touristen. Auf Wanderwegen und anderen Routen kreuzen zahlreiche Fussgänger und Biker ihre Wege. Erst in Sils Maria scheint man der Alltagshektik entronnen und taucht an diesem Sommertag in ein gemütliches
Dorfleben ein, umgeben von prachtvoller Postkartenkulisse. Etwas ausserhalb, in der weiten Ebene zwischen Silser- und Silvaplanersee, heuen Landwirte auf ihren Wiesen. Und unweit davon erneuern Zivildienstleistende eine Trockensteinmauer, die ebenfalls zum traditionellen Landschaftsbild des Oberengadins gehört. Die alte Strasse ins Fextal wird restauriert; für die Mithilfe hat die Silser Gemeindebehörde diesmal die Stiftung Umwelteinsatz aufgeboten. Ansonsten kümmert sich der Kurort weitgehend selbst um Schutz und Pflege dieser besonderen Kulturlandschaft.

Einige behaupten sogar: Wäre Sils nicht Sils, hätte man die fast zwei Quadratkilometer grosse Ebene am Fuss des Piz Corvatsch komplett überbaut. «Die intakte Landschaft ist unser wertvollstes Gut als Ferienort», bestätigt Christian Meuli, Gemeindepräsident von Sils. Allerdings weiss er auch, dass diese Haltung nicht immer selbstverständlich war. Wenig hat gefehlt, und eine massive Zersiedlung hätte die Blumenwiesen, das Kulturland und den freien Blick auf Seen und Berge auf diesem Talboden 1803 Meter über Meer verdrängt.
 

Talstation der Luftseilbahn Sils-Furtschellas, die im Winter als Zubringer zum Skigebiet Corvatsch dient. Hier soll im Einvernehmen mit der Gemeinde und den Schutzorganisationen ein Hotel realisiert werden. Foto: P. Knüsel

Die erste Schoggitaler-Aktion

Die Ebene zwischen Silser- und Silvaplanersee prägt die wechselvolle Geschichte der Raumplanung und des Landschaftsschutzes in der Schweiz seit langer Zeit. Es begann in den Nachkriegsjahren, als der Staat die räumliche Entwicklung noch nicht regulierte. Um den Silsersee vor der Wasserkraftnutzung zu schützen, wurden der Heimatschutz und andere nationale Naturschutzorganisationen aktiv: 1946 lancierten sie die erste landesweite Schoggitaler-Aktion, mit deren Erlös die Gemeinde Sils entschädigt werden konnte.

Für das Hinterland versprach sich die Lokalbehörde jedoch eine wirtschaftlich lukrativere Zukunft. In den 1960er-Jahren fasst man den irrwitzigen Plan, die gesamte, fast zwei Quadratkilometer grosse Ebene für den Bau von Feriendomizilen freizugeben. Die Gründe kennt Gemeindepräsident Meuli nicht; die Motive sind nirgends protokolliert. Dass es sich aber um keinen Irrtum handelte, beweist die damals erstellte Abwasserreinigungsanlage: Die Abflusskapazität war auf mehrere Tausend Haushalte ausgelegt.

Gemäss Ortplanung von 1962 rechnete die Gemeinde mit der Ansiedlung von 15 000 Personen rund um die historischen Weiler Maria und Baselgia. Zum grossen Glück hat man die Kernzonen bis heute nicht überwuchert: Hier leben aktuell 710 Personen. Einzig im Sommer und in den Winterferien steigt die Bevölkerung auf das Dreifache an.

Sils ist so stark vom Tourismus geprägt, wie sonst keine Oberengadiner Gemeinde. Gemäss Gemeindepräsident Meuli ist vor allem die Hotellerie lokal stark verankert: Zwei Drittel der Arbeitsplätze gehen auf ihr Konto, in St. Moritz ist der Anteil nur halb so gross. Die 18 Hotels von Sils – mit fünf, vier oder drei Sternen – zählen jährlich 400 000 Übernachtungen. Der Anteil an Zweitwohnungen liegt bei knapp 70 Prozent. Am Nordeingang befindet sich eine Feriensiedlung jüngeren Datums: ein Dutzend grosse Appartementhäuser, die seit den 1980er Jahren den Weiler Seglias bilden. Die neusten Bauten – eben wird ein Mehrfamilienhaus am Ostrand von Maria fertig gestellt – sind dagegen nur mehr für Erstwohnungen reserviert. Obwohl sich auch an die historischen Zentren inzwischen Konglomerate aus grossen und kleinen, älteren und jüngeren Wohn- und Ferienhäusern angehe.et haben, sind wesentliche Qualitäten der frühen Siedlungsform immer noch sichtbar: Die Ortskerne sind durch grüne Zwischenräume voneinander abgegrenzt.

Daran soll sich in absehbarer Zeit nichts ändern, erklärt Christian Meuli. Die Bevölkerung schwindet seit einigen Jahren; zusätzliches Bauland braucht es nicht. Auch die Dorfbevölkerung bevorzugt den Status Quo: Vor wenigen Wochen hat man in einer Gemeindeabstimmung ein Erweiterungsverbot für Ferienhäuser ausgesprochen. Sils besitzt inzwischen eines der restriktivsten Zweitwohnungsgesetze der Schweiz.

Blick Richtung Osten zum Silvaplanersee, rechts die Ebene «Cuncas»: Der Schutz dieser Fläche ist in der letzten Konzentrationsrunde vor rund 10 Jahren sichergestellt worden. Foto: P. Knüsel

Eine Fläche von fast 2 km2 ausgezont

So berühmt der Kurort für seine exklusiven Hotels und renommierten Gäste ist, so sehr bewundert man die Oberengadiner Gemeinde mittlerweile auch in der Raumplanungsszene: Wollen sich Bundesparlamentarier über lokale Landschaftsschutzfragen informieren, laden sie den Silser Gemeindepräsidenten nach Bern. Will das Schweizer Fernsehen die Nachricht «So schützt man eine Landschaft» mit praktischen Informationen und schönen Bildern illustrieren, reist es ins Oberengadin. Und sucht die Raumforschung nach Mitteln gegen die Zersiedlung, ist Sils ein willkommenes Fallbeispiel.

Denn die kleine Gemeinde im Engadin hat inzwischen so viele Flächen ausgezont wie kein anderer Ort in der Schweiz. Die Ortsplanung wurde in den letzten fünf Jahrzehnten dreimal revidiert; jedesmal ist die Baufläche beträchtlich kleiner geworden. Anfänglich setzte man auf eine Entschädigung der Grundeigentümer; in der Folge zog man eine räumliche Nutzungskonzentration vor. «Mit diesem Verfahren haben wir unsere riesigen Reserven in überschaubare Bauparzellen zusammengefasst», bestätigt Christian Meuli, der die jüngste Planungsgeschichte aus erster Hand kennt.

Der Anstoss zur Redimensionierung erfolgte 1970, mit dem Besuch zweier Bundesräte. Sie lancierten das Aktionsprogramm «Freihaltung Silserebene», woran sich neben dem Bund und der Gemeinde auch der Kanton Graubünden sowie nationale und regionale Schutzorganisationen beteiligten. Die gemeinsamen Bemühungen um eine Neuaufteilung der Silserebene in Bau- und Nichtbauland zeigten schon bald Erfolg. Als erstes wurde eine fast 40 Hektar grosse Fläche im Nordwesten ausgezont. Mit den 18 Grundeigentümern konnten entsprechende Dienstbarkeitsverträge unterzeichnet werden. Nicht alle waren von Anfang an zufrieden: Ein Hotelbesitzer ging bis vor Bundesgericht, ohne Erfolg (BGE 104 1a 120). Und auch die übrigen Betroffenen verlangten vergebens eine dreimal höhere Entschädigungssumme. Bund, Kanton, Gemeinde und die Schutzorganisationen zahlten schliesslich den Gesamtbetrag von 12 Millionen Franken aus.

Doch damit nicht genug: Gleichzeitig einigte man sich darauf, einen reduzierten Teil der Baurechte für eine Neuansiedlung zu nutzen. Daraus entstand das Quartier Seglias an der Nordzufahrt zu Sils-Maria. Als Planungsgrundlage wurde dafür 1977 der erste Quartierplan der Schweiz erstellt. «Dieser verhinderte gemeinsam mit den damaligen Bodenpreisen die Ansiedlung eines Einfamilienhausquartiers», ergänzt Gemeindepräsident Meuli. Die Ebene östlich davon blieb jedoch bis zur folgenden Konzentrationsrunde eingezont. Erst vor zehn Jahren hat man das 35 Hektar grosse Baugebiet am Westufer des Silvaplanersees zu einer knapp zwei Hektar grosse Parzelle am Siedlungsrand von Sils-Maria zusammengeschrumpft.

Von der Nutzungskonzentration im Gebiet «Cuncas» waren zwölf Landeigentümer betroffen. Wie deren Anrechte zum Bauen auf die Randparzelle transferiert worden sind, erinnert an eine Güterzusammenlegung: Die Grundstücke werden in einen Topf geworfen und neu verteilt. Die Besitzanteile der Grundeigentümer bleiben jeweils gleich. Was ändert, ist das Ausnützungsmass auf der geschrumpften Baulandfläche. Bisweilen kann die  Planungsbehörde einen gewissen Ausgleich zur Nutzungsbeschränkung schaffen, wenn sie die Ausnützung leicht erhöht (vgl. Interview mit Orlando Menghini). Dennoch ist ein solches Vorgehen für die Gemeinde Sils äusserst vorteilhaft: «Eine Nutzungskonzentration ist nicht entschädigungspflichtig», bestätigt Christian Meuli. Die Eigentumseingriffe sind zu geringfügig, um eine Entschädigungspflicht auszulösen. Entsprechende Grundsatzurteile hat das Bundesgericht in den 1980er-Jahren gefällt.

Ansicht aus dem Dorfkern von Sils-Maria: Das historische Zentrum ist romanischen Ursprungs. Foto: P. Knüsel
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Blick zum Silsersee. Eben wird die Steinmauer, die den historischen Weg ins Val Fex säumt, wiederhergestellt. Foto: P. Knüsel
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Die Grüngürtel zwischen den Weilern sind ein Charakteristikum der Besiedlung auf der Silserebene; Blick auf Sils-Baselgia. Foto: P. Knüsel

Bürgerinitiative verlangt stärkere Konzentration

Die Redimensionierung fand aber nicht nur den Segen aller höheren Instanzen. Auch die Dorfbevölkerung begrüsste das Vorhaben ihrer politischen Verwaltung. In entscheidenden Momenten verlangte der Souverän sogar zusätzliche Konzessionen von den Grundeigentümern. Die letzte Revisionsrunde, die zur Auszonung der 35 Hektar grossen Reservefläche bei «Cuncas» führen sollte, befand sich auf gutem Weg. Man war sich einig, die Baurechte auf ein fünf Hektar grosses Areal direkt bei der Talstation der Seilbahn Sils-Furtschellas zu konzentrieren. Für diese ausserhalb des Siedlungsraums gelegene Fläche war ein Gestaltungsplan vorgesehen. Ebenso hatte das Eigentümerkollektiv einen Architekturwettbewerb organisiert, den das Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron mit der neuzeitlichen Version einer Weiler-Siedlung gewann. Doch die Grossüberbauung stiess auf lokale Abwehr; es folgten eine Unterschriftensammlung und 1995 eine Gemeindeabstimmung. Das Verdikt hiess nun: eine nochmalige Reduktion der überbaubaren Fläche. Daher beschloss das Planungskonsortium von sich aus, den Standort an den östlichen Siedlungsrand zu verschieben (vgl. Interview O. Menghini).

Der noch nicht ganz fertiggestellte Neubau ist das zweitletzte Überbleibsel der einst massiv überdimensionierten Ausbaupläne in der Gemeinde Sils. Das letzte, auf ein gesundes Mass geschrumpfte Wachstum darf am Standort der Furtschellas-Seilbahn stattfinden. Die Betreiber sind mit der Gemeinde und den Schutzorganisationen übereingekommen, ein Hotel neben der Talstation zu realisieren. Der Architekturwettbewerb für das 30-Millionen-Franken-Projekt läuft bis Ende Jahr. Das neue Angebot soll den Hoteltourismus in Sils weiter stärken. Gäste aus dem Unterland sind im Oberengadin also weiterhin willkommen.
 

Buchtipp

Bundi, Erwin (2017). Entwicklung und Schutz der Oberengadiner Seenlandschaft. Herausgeber: Verein ESOS.

Bestellbar unter:
www.somedia-buchverlag.ch/gesamtverzeichnis/entwicklung-und-schutz-der-oberengadiner-seenlandschaft
 

Fotografie im Gemeindehaus von Sils: Die Talebene bei Sils, zwischen Silvaplanersee (Bild unten) und Silsersee. Foto: P. Knüsel

 


Rückzonung mit Nutzungskonzentration und Landumlegung

Eine Anleitung in vier Schritten:

  1. Die Gemeinde erarbeitet eine klare räumliche Entwicklungsstrategie und legt darin fest, wo und wie die bauliche Entwicklung künftig stattfinden soll.
  2. Gestützt auf ortsbauliche Studien werden im Nutzungsplanverfahren Gebiete definiert, wo künftig nicht mehr gebaut werden darf und Gebiete, wo gebaut werden darf (Baustandorte). Die nicht überbaubaren Flächen werden mit einem Freihaltebereich überlagert. In den verbleibenden Bauzonen (Baustandorte) wird, wo sinnvoll, die Nutzung erhöht (Nutzungskonzentration) und mit einer Quartierplanpflicht versehen.
  3. Im Quartierplanverfahren werden sämtliche Grundstücke (jene in der Bauzone und jene im Freihaltebereich) zusammengelegt und unter den Grundeigentümern neu verteilt (Landumlegung). Die Grundeigentümer erhalten gemäss ihren früheren Nutzungen sowohl Land in der Bauzone als auch Land im Freihaltebereich. Der Gesamtwert der Grundstücke ist in der Regel jedoch tiefer als früher; allerdings nur so viel tiefer, dass es sich gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht um einen schweren Eingriff ins Grundeigentum handelt und die Werteinbusse entsprechend nicht zu entschädigen ist.
  4. Nach Abschluss der Quartierplanung wird im Nutzungsplanverfahren die Bruttogeschossfläche im Baustandort zugewiesen und die mit einem Freihaltebereich überlagerte Bauzone ausgezont.

Die Planungsschritte 2 und 3 können auch parallel erfolgen und entsprechend zusammengelegt werden (siehe Kasten Ausgleichsumlegung im Kanton Solothurn).

Enteignungsrechtliche Situation

Werteinbussen bis zu einem Viertel, oder unter Umständen gar einem Drittel, müssen nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht entschädigt werden. Sie gelten als geringfügiger Eingriff ins Grundeigentum. Mit der neusten Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach Rückzonungen aus klar überdimensionierten Bauzonen generell entschädigungslos sind (Urteile Salenstein TG und La Baroche JU) dürfte die Bereitschaft der Grundeigentümer steigen, für Landumlegungen Hand zu bieten. Ganz nach dem Motto: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach!

Das Urteil im Wortlaut

Urteil des Bundesgerichts: BGE 104 Ia 120 vom 8. Februar 1978: Bestätigung der Auszonung in der Ortsplanrevision Sils von 1970

https://bit.ly/2Q16vSn
 

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Blick nach Osten in Richtung des Weilers «Seglias»: Die grünen Zwischenräume halten die historischen und jüngeren Siedlungsräume auf Abstand und sind ein wichtiges Gut für den Tourismusort im Oberengadin. Foto: P. Knüsel

Ausgleichsumlegung im Kanton Solothurn

Der Kanton Solothurn kennt eine rechtliche Grundlage für Ausgleichsumlegungen. Die Verkleinerung der Bauzone und die Landumlegung erfolgen bei diesem Modell parallel. Erst wenn die Grundstücke neu verteilt sind, erfolgt die rechtskräftige Umzonung im Nutzungsplan.

Die Bestimmung wurde bisher noch nie angewendet und auch die im Artikel erwähnten Verordnungsbestimmungen fehlen noch. Mit dem revidierten RPG und angesichts der zahlreichen Gemeinden mit grossen bis sehr grossen Baulandreserven dürfte die Bestimmung jedoch an Bedeutung gewinnen.

Die Bestimmung im Wortlaut
Ausgleichsumlegung
(§ 83bis 1bis Planungs- und Baugesetz Kanton Solothurn)

1 Zum Zweck eines angemessenen Ausgleichs der mit der Änderung des Zonenplanes verbundenen wirtschaftlichen Vor- und Nachteile kann eine Baulandumlegung gleichzeitig mit dem Nutzungsplanverfahren angeordnet und durchgeführt werden.

2 Das Land im Einzugsgebiet der Umlegung ist zu diesem Zweck jeweils aufgrund des alten und neuen Zonenplanes zu bonitieren.

3 Nach Möglichkeit ist ein angemessener Wertausgleich in der Weise vorzunehmen, dass den beteiligten Grundeigentümern Land sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Bauzone zugeteilt wird. Zu diesem Zweck kann auch Miteigentum begründet werden.

4 Der Regierungsrat regelt die Einzelheiten in einer Verordnung.
 

Der Siedlungsrand von Sils-Maria (Blick nach Westen) mit dem Neubaugebiet, das aus der Nutzungskonzentration der Ebene «Cuncas» entstanden ist.
Foto: P. Knüsel

Im Interview mit Orlando Menghini

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Orlando Menghini, Architekt und Ortsplaner von Sils im Engadin, Geschäftsleiter des Büros Stauffer und Studach Raumentwicklung in Chur. Foto: H. Muster
«Der Eingriff ins Privateigentum wird sozusagen kollektiviert»
Orlando Menghini, Architekt und Ortsplaner von Sils im Engadin, Geschäftsleiter des Büros Stauffer und Studach Raumentwicklung in Chur

Herr Menghini, Sie sind aktueller Ortsplaner von Sils im Engadin. Wie haben Sie bei der jüngsten Auszonungsaktion mitgewirkt?

Orlando Menghini: Das Ortsplanungsmandat hat unser Büro erst seit wenigen Jahren. Bei den grossen Rückzonungsaktionen habe ich daher nicht immer selbst mitgewirkt. Doch ich war schon früher mit Aufgaben in der Gemeinde Sils eingebunden. Als Kreisplaner beim Kanton und junger Architekt war ich 1989 Mitglied der Wettbewerbsjury, als das Projekt von Herzog & de Meuron für eine Wohnsiedlung in «Cuncas» ausgewählt wurde. Im Jahr 1995, als die Gemeindeversammlung eine weitere Reduktion der zulässigen Bruttogeschossflächebeschloss, durfte unser Büro auf Anfrage eines Grundeigentümers eine Planungsstudie vorlegen, wie die Nutzungskonzentration sinnvoll umzusetzen sei.

Wie gingen Sie dabei vor?

Das Verdikt nach der kommunalen Abstimmung war: Das Bauvolumen musste um den Faktor 4,3 reduziert werden. Anstelle der geplanten ca. 35 000 m2 Bruttogeschossfläche mit ca. 350 Wohnungen waren nur mehr 8000 m2 erlaubt. Ein Wohnquartier mit derart geringer Dimension an einem abgelegenen Standort machte aber keinen Sinn. Deshalb schlugen wir die Umlegung der zulässigen Baumasse an den Siedlungsrand vor. An diesem konzentrierten Standort galt es, einen Bebauungsplan mit standortverträglicher Dichte zu entwerfen; Gemeinde und Grundeigentümer haben dem schliesslich zugestimmt.

Haben sich die Eigentümer gegen die Konzentration nicht gewehrt, obwohl damit deren Nutzungsrechte beschränkt wurden?

Strategisch war die Gemeindeabstimmung entscheidend. Die Haltung der Behörde und der Bevölkerung war klar: Man wünscht nur ein moderates Siedlungswachstum und will die Landschaft schonen. Die Grundeigentümer haben erkannt, dass man nicht mehr herausholen kann. Respektive: Hätte man noch länger zugewartet, wären möglicherweise auch die reduzierten Baupläne bestritten worden. Daher lag es in deren Interesse, den Standort so schnell als möglich zu überbauen. Die meisten Grundeigentümer haben ihre Anteile inzwischen an Immobilieninvestoren verkauft und das neue Quartier ist vollständig realisiert.

Sind solche Nutzungskonzentrationen nicht auch eine Art Kuhhandel, weil der Ermessensspielraum der Planungsträger relativ gross erscheint?

Im Kanton Graubünden wird dieses Planungsinstrument seit den 1980er-Jahren mit Erfolg bei Bauzonenreduktionen eingesetzt. In der Praxis hat es sich bewährt und wird sowohl von den Gemeinden als auch von den Grundeigentümern verstanden. Unser Büro hat in verschiedenen Gemeinden, etwa in La Punt Chamues-ch, Sent und Maienfeld gute Erfahrungen gemacht. Ich erkläre das Verfahren den Beteiligten jeweils so: Eine Nutzungskonzentration ist eine «demokratische» Lösung mit einer Kollektivierung der Planungsgewinne und -verluste. Wenn man stattdessen eine einzelne Parzelle ohne Gegenleistung auszont, schafft man Verlierer und provoziert Opposition, die sich auf die Stimmung der ganzen Bevölkerung niederschlagen kann. Mit der Nutzungskonzentration bietet die Behörde den Eigentümern stattdessen eine Alternative, die eine qualitative Bebauungs- und Erschliessungsplanung beinhaltet. Zudem wird der Erschliessungsaufwand reduziert, weil die bebaubare Siedlungsfläche kompakter ist.

«Eine Nutzungskonzentration entzieht den betroffenen Grundeigentümern nicht sämtliche, sondern nur einen limitierten Teil der Nutzungsmöglichkeiten. Daher löst eine solche Massnahme gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts in der Regel keine Entschädigungspflicht aus.»
Orlando Menghini, Architekt und Ortsplaner von Sils im Engadin, Geschäftsleiter des Büros Stauffer und Studach Raumentwicklung in Chur

Aber stellen Nutzungskonzentrationen sicher, dass die quantitativen Vorgaben für eine Reduktion der Bauzonen effektiv erreicht werden?

Als Raumplaner fühle ich mich verpflichtet, eine qualitativ hochwertige Siedlungsentwicklung und konstruktive Ansätze anzustreben. Das heisst: Ich muss zuerst ein Bild für die angestrebte kompakte Siedlungsstruktur entwerfen, bevor die Rückzonungsflächen bestimmt werden. Städtebauliche Studien sind unerlässlich, um beispielsweise kompakte Siedlungsränder zu bilden. Damit eine qualitative Nutzungskonzentration gelingt, sind Bebauungs- und Erschliessungsvarianten für die konzentrierten Flächen zu entwickeln. Und was auch wichtig ist: Der
Redimensionierungsauftrag ist in der Nutzungsplanung zu verankern, ebenso wie eine Quartierplanpflicht mit besonderen Zielsetzungen. Damit stellt die Gemeinde sicher, dass die Planungsidee zwingend umgesetzt wird.

Sehr wichtig ist noch: Eine Nutzungskonzentration entzieht den betroffenen Grundeigentümern nicht sämtliche, sondern nur einen limitierten Teil der Nutzungsmöglichkeiten. Daher löst eine solche Massnahme gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts in der Regel keine Entschädigungspflicht aus.
 

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In den Restaurants in Sils machen es sich im Sommer vor allem auch Touristen und Zweitwohnungsbesitzer gemütlich.
Foto: B. Jud, EspaceSuisse

Was sind die methodischen Schritte bei einer Nutzungskonzentration?

Die Planung läuft in der Regel über mehrere Phasen: Zu den planerischen Vorarbeiten gehören die Auswahl von Flächen, die sich für eine Nutzungskonzentration eignen sowie städtebauliche Studien. Die gestalterische Herausforderung liegt darin, die konzentrierte Baufläche optimal in die bestehende Siedlungsstruktur und die Landschaft einzufügen. Dabei ist auf unterschiedlichen Massstabsebenen zu skizzieren, wie sich der Siedlungskörper und die konzentrierte Bebauung in Bezug zum Freiraum und zur Landschaft entwickeln sollen. Das Konzept wird in der Nutzungsplanung festgesetzt; dazu gehören die Reduktion des Nutzungsmasses, die Nutzungskonzentration mit Baustandort und die Quartierplanpflicht.

In der zweiten Phase wird die Nutzungskonzentration mit Baulandumlegung, Gestaltung und Erschliessung im Rahmen einer Quartierplanung grundeigentümerverbindlich umgesetzt und die nicht überbaubare Fläche einem Freihaltebereich zugewiesen.

Im letzten Schritt wird die Bauzone im Bereich der nun freizuhaltenden Flächen aufgehoben.
 

Bei einem Anteil an Zweitwohnungen von knapp 70 Prozent sind Neubauten nur mehr für Erstwohnungen reserviert. Foto: B. Jud, EspaceSuisse

Welche Faktoren führen zum Erfolg bei einer Redimensionierung von Bauzonen?

Im Vergleich zu einer Auszonung, die o. zu juristischen Streitereien führt und nur Verlierer und Gewinner schafft, ist die Redimensionierung der Bauzone mit einer Nutzungskonzentration ein demokratischeres Verfahren. Alle Eigentümer der Ursprungsfläche werden gleichberechtigt behandelt; der Eingriff ins Privateigentum, der aus einem öffentlichen Interesse erfolgt, wird sozusagen kollektiviert. Dazu braucht es aber eine intensive Kommunikation und den Dialog mit den Grundeigentümern. Sowohl in Sils als auch in Maienfeld, wo ebenfalls ein solcher Prozess stattfand, spielten die mitwirkenden Personen eine entscheidende Rolle. An beiden Orten haben die Amtsträger die Redimensionierung zur Chefsache erklärt und solange mit jedem einzelnen Eigentümer verhandelt, bis sie einverstanden waren.

Also wäre das auch in anderen Schweizer Gemeinden mit Redimensionierungsbedarf möglich?

Soweit ich das beurteilen kann, kann das Instrument der Nutzungskonzentration überall in Gemeinden mit Rückzonungsbedarf angewendet werden. Wichtig ist der Wille einer Gemeinde, die Siedlung qualitativ weiterzuentwickeln. Auch hierzu war die Ausgangslage in Maienfeld und Sils geklärt. Die Stadt Maienfeld hatte selbst ein Leitbild formuliert, wonach das frühere Wachstum einzudämmen und die Bauzone zu reduzieren ist. In Sils ist der Wunsch nach Reduktion der Bauzonen aus der Bevölkerung entstanden. Man möchte so bleiben, wie man jetzt ist, und umso mehr Sorge zur Natur und Landschaft tragen.

Der Silsersee mit Blick Richtung Sils und dem Hotel Waldhaus. Foto: A. Straumann, EspaceSuisse
Der Verlauf der Bauzonen-Redimensionierung auf der Silserebene. Die grauen Flächen sind Bauzonen. Seit 1970 wurden in drei Ortsplanrevisionen mehrere Flächen (grün markiert) wieder ausgezont. Quelle: Stauffer-Studach Raumentwicklung.

Interview: Paul Knüsel


Win-Win-Raumentwicklung

Zu viel Bauland: Eine Tatsache, vor der auch die Walliser Stadtgemeinde Brig-Glis steht. Sie wird aufgrund des revidierten Raumplanungsgesetzes und des neuen kantonalen Richtplans ihre Bauzonen verkleinern müssen. Die Exekutive von Brig-Glis hat deshalb ein Leitbild für die räumliche Entwicklung des Gemeindegebietes erarbeitet und auf dieser Basis Grundsätze für die kommunale Siedlungsentwicklung festgelegt.

Ziel war es, in Brig-Glis eine breite politische Akzeptanz für die Umsetzung der Siedlungsentwicklung nach innen zu erreichen. Dem Stadtrat ging es darum, ein gemeinsames Verständnis einer künftigen Raumentwicklung zu schaffen und die nötigen Rückzonungen ohne Verlierer durchzuführen.

Kommunale Grundsätze für die Bauzonenausscheidung

Die Exekutive erarbeite zusammen mit externen Fachleuten ein Leitbild. Dieses zeigt auf, wie sich die Gemeinde die Entwicklung des Siedlungsgebiets vorstellt. Das Leitbild hält zum Beispiel fest, dass die typischen Elemente des Dorfkerns erhalten und die Aussenräume aufgewertet und zugänglicher werden sollen. Im Rahmen eines Modellvorhabens mit dem Bund diente das Leitbild anschliessend als Grundlage, um kommunale Grundsätze für die Bauzonenausscheidung auszuarbeiten. Diese wurden anhand von zwei Beispielen umgesetzt.

Mit einem verbindlichen Leitbild kann eine Gemeinde den Eigentümern und Investoren ihre Entwicklungsabsicht klar vermitteln. Es fördert die Transparenz und erhöht die Akzeptanz einer Verkleinerung von Bauzonen. Für die Diskussion mit der Bevölkerung ist es wichtig, dass die Gemeindeexekutive eine klare Haltung vertritt.

Basierend auf den Grundsätzen des Leitbildes und den Erkenntnissen der zwei Anwendungsbeispiele führt die Stadtgemeinde Brig-Glis den Prozess weiter. Die gewonnenen Erkenntnisse werden an weiteren Orten angewandt und auf die regionale und kantonale Ebene übertragen.

 

Mehr erfahren?
Besuchen Sie die ARE-Website:
bit.ly/espacesuisse_brig-glis
 

zB Sils im Engadin, Artikel Inforaum 2018/3

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